Seitdem das Jahr frisch begonnen hat, werden mir in den sozialen Medien täglich ungewollt Angebote gemacht, wie ich mich selbst optimieren kann: „Folge diesem Zeitplan, um dein Leben zu verändern“, „Verbinde dich wirklich mit deinem Kind“, „Janu-ready for a new sex life?“, “28 Tage Wand-Pilates und du siehst SO aus“, „Über 40 – weg mit der Wampe!“, um nur einige Leuchttürme zu nennen. Zwischen „Dry January“, „Veganuary“, „Nie wieder prokrastinieren“ und den mir ständig angezeigten „Besten Quark-Pfannkuchen ohne Mehl nach Omas Rezept“ bleibe ich an einem Pop-up-Werbefenster hängen. Ein echt gut gemalter Frauenkopf und darüber die Überschrift: „Werde die spannendeste Person im Raum“. SpannendEste? Irritiert durch den Rechtschreibfehler lese ich weiter. Die App verspricht mir, dass ich keine Bücher mehr zu lesen brauche und dabei mein Selbstwachstum fördere – es reichen die durchschnittlich 15-minütigen, gesprochenen Resümees tausender Sachbücher. Bisher habe ich mich noch gar nicht mit solchen Inhaltsangabe-Apps beschäftigt. Voll toll, dass man keine ganzen Bücher mehr lesen oder hören muss, wenn es doch in 12 Minuten geht. Und mit Sicherheit werden bald auch sämtliche belletristischen Werke als Quickie vertont. Schon jetzt könnte ich mir in dieser App George Orwells Dystopie „1984“ als 12-minütiges Häppchen anhören.
Die ganzen Bücher, die ich für die Lese-Zukunft meiner dreijährigen Tochter geplant habe – „Die unendliche Geschichte“, „Momo“, „Harry Potter“ und später „Tschick“ – die kann ich alle in die vor sich hin modernden Bücherboxen bringen. Sicherlich gibt es auch diese Werke ganz bald schon als 12-minütige Audio-Resümees, natürlich von einer KI gesprochen, und dann auf Tonie-Figur. Die Bibel, die Tora und den Koran wird es vielleicht auch bald als 18-minütige Audio-Resümees geben.
Natürlich bin ich neugierig und lade mir die App runter. Die „spannendEste Person im Raum“ wird man übrigens, wenn man in 28 Tagen die superkurzen Resümees von 28 ausgewählten Sachbuch-Bestsellern hört oder liest. Ja Mensch, dann sollte sich einfach jeder Politiker, der als „blass“ verbrämt wird, diese App runterladen, dann wird das schon!
Für mein Selbstwachstum entscheide ich mich aber spontan für folgende 3-Tage-Challenge:
“Mach dein Bett: Die 10 wichtigsten Dinge, die ich als Navy SEAL gelernt habe und die auch dein Leben verändern“. (Ich finde es morgens immer schwierig, das Bett zu machen UND pünktlich bei Terminen zu sein.)
„Der 5-Uhr-Club. Gestalte deinen Morgen und in deinem Leben wird alles möglich“. (Ich schlafe manchmal erst um 5 Uhr ein.)
„Deine Likes sind egal. Verabschiede dich von dem Bedürfnis nach Anerkennung und führe ein entspanntes Leben“. (Oh wie schön!)
Ich spinne mal ein bisschen weiter. Warum nicht noch viel mehr verkürzen und zusammenschrumpfen, zum Beispiel Musik? Warum seine Zeit verschwenden mit Zwischentönen?
Bei „Boléro“ von Maurice Ravel reicht doch Minute 10:21 bis Minute 10:41. Ein Stück Weltmusik in 20 Sekunden – Bingo! Und „Viva la Vida“ von Coldplay: Die ersten 12 Sekunden natürlich. Und bei Antonio Vivaldis „Winter“ brilliert die spannendste Person im Raum, wenn sie die Passage zwischen Minute 1:25 und Minute 1:37 summen kann.
Und was ist mit Filmen oder Serien? Völlig ineffizient, sich diesen stunden- oder gar nächtelang hinzugeben. Es wird die Möglichkeit geben, nur noch Trailer inklusive Ende der Geschichte zu konsumieren. So erspart man sich lästige Handlungsbögen, kann mitreden, wird spannend und hat noch mehr Zeit für die Selbstoptimierung.
Aber ich muss jetzt hier abbrechen.
Ich muss mein Bett machen.
Und ihr, kommt bitte geschmeidig und frohsinnig durch diese Zeit, die noch wie ein schönes weißes Blatt oder eine unberührte Schneelandschaft vor uns liegt.
Ein sehr nachdenklicher, satirischer Blog, den hoffentlich ganz viele Leute lesen.
Wer kennt nicht solche vermeintlich interessantesten Personen im Raum. Mir geht es mit solchen Menschen, wie Gaga Nielsen.
In der Kita ist die Welt noch in Ordnung und in vielen Familien auch. Dort lernen die Kinder noch mit und durch Geschichten, Märchen und Liedern noch in Gänze. Das ist in der Grundschule auch noch Priorität. Aber in den weiterführenden Schulen…. Bei dem Begriff „Selbstoptimierung“ musste ich unweigerlich an den in den 1990- iger Jahren geprägten pädagogischen Begriff “ didaktische Reduktion“ denken. Mein damaliger Abteilungsleiter W. erklärte es damals einem Referendar so:“ Wir reduzieren unsere Inhalte in den Unterrichtsfächern solange, bis wir gar keinen Unterrichtsstoff mehr vermitteln. In meinen letzten Berufsjahren musste ich oft an W. denken, wenn wir unsere Stoffverteilungspläne vor jedem Schuljahr abgesprochen haben. W. hat recht, wir kommen der Sache immer näher. Sowas ( das Wesen einer „interressantesten“ Person) kommt auch von sowas.
Ich wünsche uns für die nahe Zukunft ein Bildungssystem, in dem Kinder und Jugendliche Zeit, Möglichkeiten und Unterstützung bekommen, ihre natürliche Intelligenz zu nutzen, um ganzheitlich und auch analytisch denken zu können. Damit würden sie auf jeden Fall immer zu den interessantesten und anerkanntesten Personen im Raum gehören. 👍👏
Merci beaucoup, liebe Maman ❤️ „Didaktische Reduktion“…“bis gar kein Unterrichtsstoff mehr vermittelt wird“ – oh je, das war eine dunkle Vorahnung! Ich habe mal recherchiert, wo man das Bildungssystem findet, das Du dir wünschst. Estland und Finnland! 🙌 Ein hoher Stellenwert wird auf Selbständigkeit, Motivation und Mitgestaltung der Schülerinnen und Schüler gelegt. Interessanterweise werden in beiden Ländern Bildung, Schule und Lehrende hoch wertgeschätzt. Irgendwo las ich in diesem Zusammenhang vom „Heben der Flügel“ der Kinder, das Bild fand ich sehr schön. Aber Finnland zählt ja auch zu den Ländern mit den zufriedensten Menschen der Welt 😊
Abermals sehr gelacht 🙂
Ich erinnere mich diffus, dass mir immer wieder einmal Herren begegneten, die sich darin gefielen, in jegliche Konversation Zitate von großen Köpfen der Weltgeschichte einzuflechten. Da wurde dann tief Luft geholt, eine kleine (etwas zu lange) Kunstpause gemacht und dann mit gewichtigem Tonfall das vermeintlich zum Konversationsthema passende Zitat vorgetragen. Wieder Kunstpause, leicht triumphierender, erwartungsvoller Gesichtsausdruck des Vortragenden, als ob nun tosender Beifall einsetzen müsste, ob seiner erstaunlichen Fähigkeit, sich zwei geistreiche Sätze zu merken, die vor hundertfünfzig Jahren ein anderer erdacht hat. Ich lächelte dann (weniger beeindruckt als viel mehr peinlich berührt) nachsichtig und brummelte evt. „hm, interessant, schon mal gehört“ und guckte in mein leeres Glas. Fluchtgedanken machten sich breit.
Die Idee, dass man Leute damit beeindrucken können soll, dass man Phrasen absondert – wie geistreich auch immer – ist doch eher Zeugnis der unoriginellen Persönlichkeit des Lebenshilferatgeber-Autors. Mich schreckt nichts mehr ab als „Personen im Raum“ die unoriginäre Gedanken, Meinungen, Weltbilder absondern, von Anderen Vorgedachtes mit wichtiger Miene kolportieren. Langeweile macht sich breit. Die spannendste Person im Raum ist für mich jemand, dem ich beim eigenständigen Denken und Schlussfolgerungen ziehen live zuhören kann. Allerdings ein seltenes Phänomen, gebe ich zu.
Vielen Dank, liebe Gaga! Ich musste selber sehr lachen bei der Vorstellung, wie sich die beschriebenen, geistreichen Herren vor Dir produzierten 😄 „Hm, interessant“ ist übrigens die eleganteste Reaktion, die man darauf geben kann. Eine Freundin erzählte mir erst neulich, dass sie immer „Interessant“ sagt, wenn sie Geschwätz hört, auf das sie sich nicht einlassen will, ohne das Gegenüber dabei zu kränken. Dann könnte man sich umdrehen und das leere Glas wieder auffüllen gehen.
Ob zusammenhanglose Zitate von großen Köpfen der Weltgeschichte, Copy-Paste oder Name-Dropping, das Unoriginäre ist schon zur Normalität geworden, das Originäre und Kreative zum Besonderen. Auch in diesem Sinne feiere ich Deine Kunst! Für alle, die dies lesen, noch bis zum 29.1. zu bestaunen in der Seven Star Gallery in Berlin-Mitte! „Welcome to Gagania“!
Ich habe gute Erfahrungen mit Pipi Langstrumpf gemacht: Und dann muss man ja noch Zeit haben, einfach da zu sitzen und vor sich hin zu schauen.
Meine Enkel lieben diese kleinen Zeiten. 🥰
Danke, lieber Eduard! Ich versuche gerade, mir die wunderbaren Abenteuer von Pippi Langstrumpf als 12-minütiges Audio-Resümee vorzustellen – geht gar nicht! 😄 Oh ja, sich die Zeit nehmen und einfach vor sich hin schauen und träumen, wie Du es mit deinen Enkeln erlebst – das sind die kostbarsten Momente! 😍