In meiner Straße wohnen plötzlich immer mehr Millionäre. Sie kaufen Häuser in den Hinterhöfen, restaurieren diese und setzen Penthouses oben drauf. Wenn die neuen Hausherren nicht daheim sind, werden die Domizile ordentlich illuminiert – auch die Nächte hindurch – damit das Gesindel auf der Straße oder im Park nicht auf dumme Gedanken kommt. Dann lichtflutet eine Armada von Penthouse-Fenstern schon mal die Innenhöfe und die gegenüberliegenden Wohnungen der nach Schlaf ringenden (Ur-)Einwohner.
Gerade erst sah ich wieder, wie eine dicke Ratte unter einem parkenden Porsche über die Bordsteinkante in die Büsche des Weinbergsparks lief. Meinen einst geliebten Weg neben den Blumenrabatten meide ich mittlerweile, seit ein ganzes Rattenrudel vor meiner Nase quer über den Asphalt lief. Wäre ich Millionärin, würde ich nicht auf die Idee kommen, mir ein Domizil in meinem Kiez zu kaufen. Dann doch lieber am Wannsee oder in St. Tropez.
Ein Freund, mit dem ich kürzlich darüber sinnierte, meinte: „Ja, aber die wollen halt trotzdem Bars und Nachtleben und Lebendigkeit und so. Hier pulsiert es, am Wannsee nicht.“ Stimmt auch wieder. Am Wannsee kriege ich auch keinen vernünftigen Döner, geschweige denn ein Halloumi Sandwich. In St. Trop allerdings auch nicht.
Gerade mal die üblichen Immobilienportale gecheckt. Für eine knappe Million könnte ich eine Wohnung in dem Haus kaufen, auf das ich aus unserer Küche zum Hinterhof schaue. Ein Schnäppchen, denn es gibt unten im Erdgeschoss ein eigenes Fitness-Studio. Nicht ohne Neid starre ich oft beim Spiegeleier-Braten auf die Sporttreibenden, die direkt aus dem Bett mit dem Fahrstuhl in ihr eigenes Gym fahren können. Für knapp 2 Millionen könnte ich in meiner Straße ein Penthouse mit „imposantem Panorama“ kaufen. Hier ein kleiner Auszug aus der Objektbeschreibung: „Die zugespitzte Architektur erinnert an das berühmte ‚Flatiron‘ in New York in exponierter City-Lage. Doch was Ihnen hier geboten wird, weist überaus mehr Lebensqualität auf als sein bekannter Überseezwilling.“
Dieses fünfstöckige, mausfarbene 08/15-Wohnhaus, nur weil es spitz zusammen läuft, als Zwilling eines der berühmtesten Wahrzeichen Manhattans zu vergleichen, welches als Ikone der frühen New Yorker Hochhausarchitektur gilt, zeugt von bemerkenswerter Hybris.
Den besten Panoramablick hat der Graureiher unten am Teich. Wenn er sich in die Lüfte schwingt, sieht er nicht nur den Berliner Dom rechts hinterm Fernsehturm, die goldene Kuppel der Synagoge und das aquagrüne Türmchen der Sophienkirche, sondern auch das Busendach. Dieses ist dem Werbeunternehmer und Konzeptkünstler Jean-Remy von Matt zu verdanken. Im Jahre 2017 hat er sich eine Spezialanfertigung auf sein 400 Quadratmeter-Luxusdomizil im Hinterhof bauen lassen: ein Dach in Form des Busens seiner Ehefrau. Aus Hunderten von Kupferplatten beplankt. Der Nippel ist ein Schornstein. Ich habe mir auf einer Architekturfotografie-Seite Innenaufnahmen seines traumhaften Anwesens angeschaut. Niemals hätte ich gedacht, dass sich in der Brunnenstraße schräg oben hinter dem verranzten Eingang zum U-Bahnhof Rosenthaler Platz solch ein prunkvoller Palast befindet. Andererseits hat der Hausherr die Frontfassade mit den denkwürdigen Lettern „Dieses Haus stand früher in einem anderen Land“ bereichert. Die bizarren Gegensätze meines Kiezes zeigen sich auch auf der anderen Straßenseite. Bei VOLK schlürfen die Reichen und Schönen draußen auf dem Trottoir Austern und Dom Pérignon an blütenweiß gedeckten Tischen, während gegenüber auf der Bank der Tram-Haltestelle und auf der Parkmauer Obdachlose schlafen.
Ich habe mal wieder Lotto gespielt und male mir mein Haus am Wannsee aus. Und das Domizil am Plage Tahiti in St. Tropez. Noch habe ich die Zahlen nicht gecheckt, ich will mich noch ein Weilchen in vorfreudiger Gewissheit wiegen. Neulich habe ich gehört, dass eine Berlinerin 124 Millionen im Lotto gewonnen hat, diese aber aus Unwissenheit über Wochen nicht abholte. Das hätte ich sein können. War ich aber leider nicht. Aber der Döner zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit würde mir schon fehlen. Und das Café meiner Freundin Maria mit ihrem legendären Orgasmuskuchen auch (siehe Kolumne vom 13.09.2024). Und der Weinhändler meines Vertrauens, der mich sogar nach offiziellem Ladenschluss noch reinlässt und bei dem es immer Schokolade und Cracker zu naschen gibt. Genauso meine Lieblingsbars, auch wenn ich die kaum noch frequentiere und lieber gemütlich auf dem Sofa schlunze. Aber die theoretische Möglichkeit, dass ich jederzeit könnte – das hat schon was. Mensch, da habe ich was mit den Millionären in meiner Straße gemeinsam. Am meisten würde mir aber der Reiher fehlen. Der bleibt auch hier, in seinem Revier. Während andere Vögel gen Süden ziehen – und das ohne Lottogewinn – trotzt er dem Berliner Herbstgrau. Still und gelassen bleibt er zwischen kahl werdenden Ästen und Teichwasser. Ab und zu schwingt er sich in die Lüfte und landet auf dem Busendach. Und schmunzelt über die Bekloppten da unten.
Du weißt schon, dass es inzwischen wie ein Sechser im Lotto ist, wenn man in unserer Ecke noch zur Miete wohnen kann. Als „meine“ kleine Wohnung vor zehn Jahren auf dem Markt kam, waren die damaligen 275.000 Euro für 2 Zimmer im oberen Bereich. Das wäre heute ein Schnäppchen, die Preise haben sich ziemlich genau verdoppelt. Ich konnte mir die Wohnung schon damals nicht leisten, also vom Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen, das man als langjährige/r Mieter/in bekommt, wenn eine Mietwohnung umgewandelt wird zur Eigentumswohnung. Das wird sich immer weiter dynamisch nach oben entwickeln. Die Ferienwohnung, die ich ihn Kampen hatte, mit vergleichbarer Größe wie meine in Berlin, allerdings ohne Balkon (gibts an Reethäusern nicht, ist untersagt), ist auch auf dem Markt, für 785.000 Euro, immerhin unter einer Million. Für Kampen ein Schnäppchen 🙂 Wir können zufrieden sein und den Immobiliengott jeden Abend vor dem Einschlafen in unsere Gebete einschließen. Hoffe, der Professor, der vor zehn Jahren „meine“ Wohnung kaufte, hat noch lange keine Anwandlungen Eigenbedarf anzumelden. Neulich mal geguckt, was es vergleichbares auf dem Mietwohnungsmarkt gibt. Kaum Angebote, entweder zur doppelten Miethöhe oder in Randbezirken, wo man teilweise noch nie war und auch nicht hin möchte. Wenn Du Eigentumswohnungen in Mitte googelst, kommt ein hoher Prozentsatz von Angeboten in – u. a. – Gesundbrunnen. Äh… Da macht sich bei mir der innerliche Snob bemerkbar. Das ist für mich nicht Mitte, sondern Wedding. Diese Bezirksreform auf dem Papier spielt den Immobilien-Vermarktern in die Karten, wer nicht durchblickt und investitionsfreudiger Nicht-Berliner ist, schlägt da vielleicht zu 🙂
Liebe Gaga, der „innerliche Snob“ (herrlich, bin ich froh, dass ich damit nicht alleine bin 😂) schreit auch in mir immer auf, wenn ich Pseudo-Mitte-Angaben lese. An diese „Bezirksreform auf dem Papier“ kann ich mich bis heute nicht gewöhnen. Moabit ist Moabit, Wedding ist Wedding, Tiergarten ist Tiergarten. Mitte ist Mitte. Im Spätsommer hab ich auf einer Terrassenparty in Lichterfelde eine Dame kennengelernt, die immer wieder betonte, dass sie ja in Mitte wohne. Ihrem Tonfall nach klang es so, als würde sie am Gendarmenmarkt oder in der Sophienstraße wohnen. Ich dann nachgefragt, in welcher Straße – hätte ja sein können, dass man Nachbarn ist – und die Antwort war „Müllerstraße“. Da schrie die snobistische Mitte-Patriotin in mir laut auf. (Nach außen wahrte ich freundliche Contenance.) Das ist für mich Downtown Wedding. Mehr Wedding geht nich. Und nichts gegen den Wedding. Ich mag Gesundbrunnen und Humboldthain. Aber ist nicht Mitte. Genauso irritiert war ich kurz, als ich mal las „George Clooney gastiert wieder im Soho House in Pankow“ statt Prenzlauer Berg 😂
Ich gebe Dir recht – die Entwicklung in unserer Ecke ist schon krass. Ich werde den Immobiliengott ab heute vor dem Einschlafen in meine Gebete mit einschließen 🙌🙏🏼❤️
Mit scharfem Blick und feiner Feder hinter die Kulissen und ins Herz des Berliner Mitte-Kiezes geschaut. Herrlich zu lesen.
Der Genuss solcher Lektüre könnte sicher auch dem geneigten Leser z.B. der Berliner Zeitung unter der Rubrik Panorama Freude bereiten.
Dein Pabba
Danke lieber Pabba 😂❤️🫶🏼😘
Mir geht es wie Montagsmarie: Ich verbleibe mit 👍👍👍😘. Aber mit dem Busendach habe ich dazugelernt und überlege immernoch, ist das Dekadenz, sexualisierte Baukunst, Liebesbekundung eines Ehemannes, originelle Baukunst oder…oder…
Ganz lieben Dank, liebe Maman ❤️ Ja das mit dem Busendach liegt wohl im Auge der Betrachterin und sicherlich trifft alles zu 😂 Ich habe gelesen, dass er sich für sein eigenes Haus „das schönste Dach der Welt“ wünschte, weil ihn Städte von oben langweilten… ☺️😘
Das ist so toll geschrieben, dass mir die Worte fehlen, darauf etwas Kluges oder Witziges oder sonst irgendwie Originelles zu schreiben. Diese Geschichten von Dir, die könten ein gutes Buch ergeben. „In Berlin“ oder so. Das meine ich! Bravo! Hohe Kunst! Und ich habe gegoogelt: Sowohl das Haus, das woanders stand als auch das Busendach. Uff.
So lieben Dank, liebe Montagsmarie! 😍 Jetzt fehlen mir die Worte 😂 DANKE 🙌