Ich starre aufs Wattenmeer. Das Wasser zieht sich gerade zurück. Eine Möwe kreist über den welligen Sand. Stille und Weite. Leere. Einfach mal nichts tun. Nur sein. Salzluft.
Der zarte Schrei der Möwe vermischt sich mit einem anderen Ton. Geht in fernes Rattern und Quietschen über, das immer lauter wird, immer näher kommt. Achja, Mist, die S-Bahn, in die ich springen muss, zum nächsten Termin. Geht’s euch auch so, dass ihr manchmal eine Pausentaste drücken wollt? Wenigstens für ein paar Minuten? Für meine gute Bekannte D. wäre solch ein Leerlauf der personifizierte Horror. Sie füllt sogar noch die 10 Minuten Pause zwischen der Verabredung mit einer Freundin und einem darauf folgenden Date. Schlimm, wenn nach der Ankunft von einer Geschäftsreise noch 30 Minuten Zeit sind bis zur nächsten Ashtanga Yoga-Stunde. Und zwischen Yoga und dem nächsten Galerie-Opening bestimmt noch 20 Minuten. Es würde D. wahrscheinlich nicht mal im Traum einfallen, sich auf die Couch zu lungern, um eine Zeitschrift oder ein Buch zu lesen. Oder einfach nur ihren Gedanken nachzuhängen. Dabei könnte sie es sich als Führungskraft in einem Kosmetik-Unternehmen durchaus erlauben. Nicht selten kommt es vor, dass sie mich anfunkt, ob ich spontan Zeit hätte. Und dabei wohnen wir noch nicht mal im gleichen Kiez. Kaffee trinken? Lunch? Dinner? Aus einem mir unerklärlichen Grund denkt D., dass ich immer spontan Zeit habe bzw. zu Hause bin, obwohl ich sie schon öfter dezent auf meinen Terminkalender hingewiesen habe oder ihr schon oft abgesagt habe oder einfach nicht ans Handy gehe oder auf Flugmodus schalte, wenn Sprachnachrichten von ihr eintrudeln. Allerdings habe ich ihr noch nie abgesagt mit der Begründung, dass ich keine Lust habe.
Es ist ja nicht so, dass ich D. nicht gerne treffe – sie ist eine bezaubernde Frau mit einem unbekümmerten, positiven Naturell – aber insgeheim grolle ich über ihr Konsumieren von Verabredungen, Veranstaltungen, Vernissagen, Installationen, Konzerten, Weiterbildungen und Zerstreuungen. Weiterbildungen? Ja, D. hat sich an vielen Wochenenden zum NLP-Master ausbilden lassen und zum agilen Coach und zur Prana-Heilerin auch noch und nächstes Wochenende will sie ein Schnellhypnose-Seminar in München absolvieren und hat mich schon gefragt, ob wir abends nach ihrer Ankunft einen Wein trinken wollen oder vor ihrer Abreise. Falls sie da nicht dieses Tinder-Date hat. Wenn D. nicht gerade auf Achse ist, kriegt sie Besuch aus aller Welt. Manchmal quetschen sich bis zu sechsköpfige Familien eine Woche lang in ihre Wohnung. Ich finde ihre ausgiebige Gastfreundschaft bewunderns- und liebenswert. Wenn sie mit Besuchen, Verabredungen oder Dates „versorgt“ ist, höre ich manchmal wochenlang nichts von ihr. Aber sobald der Besuch wie ein Bienenschwarm ausgeflogen ist – und ich mich an ihrer Stelle verbarrikadieren oder ans Wattenmeer flüchten würde – funkt sie mich an. Auch online ist bei D. nie Leerlauf. Kein Tag ohne Insta-Story, selbst wenn man D. beim Zumba im Fitness-Studio zuschauen kann oder beim Autofahren, wie sie ihre Löwenmähne neben dem halboffenen Fenster schüttelt und lippensynchron zu „She‘s a Maniac“ in die Kamera singt. (Ich muss sie mal fragen, wie sie das technisch macht, das sich-Filmen-beim-Autofahren – ich hoffe mit nem Handyhalter!)
Neulich musste ich an D. denken, als ich von einer neuen Studie der University of Toronto las. Beim Konsum digitaler Medien suchen viele Menschen nach zusätzlicher Stimulation, um Langeweile zu vermeiden. Doch wer in kurzen Abständen von einem Online-Video zum nächsten wechselt, langweilt sich noch mehr. Denn durch das ständige Switchen werden die einzelnen Videos bedeutungslos. Paradoxerweise verstärkt permanente Stimulation die Langeweile. Lässt sich das auf den Alltag übertragen?
In der Leere finden wir wieder zu uns. Das Gehirn fängt an zu spielen und uns kommen Ideen. Cole Porter hat mal gesagt: „Ich habe meine besten Songs geschrieben, während ich auf einer Party zwischen zwei Langweilern saß.“ Herrlich.
Nichtstun soll ja jetzt voll im Trend liegen. Das wiederum wäre was für D. Sie macht nämlich aus wirklich allem eine Challenge – so war es jedenfalls auch, als sie Transzendentale Meditation oder Achtsamkeitstraining entdeckt hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch die Entdeckung der Leere eine Challenge für sie werden würde, sofern man sie zur Challenge nominiert.
D. hat mir gerade eine Sprachnachricht geschickt. Ihr Date für heute Abend hat abgesagt. Ob ich nicht spontan Lust hätte, mit ihr zu einem Winterchor-Singen für Frauen beim Bikram Yoga zu gehen. Skandinavische Luciagesänge und Weihnachts-Popsongs gegen den aufkommenden Winter-Blues und dabei auch noch schwitzen.
Ich antworte ihr: „Danke, darauf habe ich heute keine Lust.“
Da halte ich es doch lieber mit Judith Holofernes: „Ich mach heute nichts was etwas nutzt, wobei man schwitzt oder lang sitzt.“
„„Danke, darauf habe ich heute keine Lust.“
Danke, eben sehr gelacht über diese nonchalante Rückmeldung 🙂
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