„Da drüben wohnen Onkel Fritti und Tante Edith“, erklärte Mama uns Kindern, während unser über zwanzig Jahre alter Trabi den Berliner Außenring entlang kroch. Sehnsüchtig schauten wir rüber zu den Hochhäusern von Neukölln. Ich verstand nicht, warum wir dort nicht hin konnten und warum da eine Mauer stand. Diese musste sehr lang sein, wenn wir auch nicht rüber konnten, um Tante Martha in Dahlem und Tante Anneliese, Tante Julita und unsere anderen Verwandten in Steglitz besuchen zu können.
Manchmal kamen die – sehr selten – zu Besuch in das alte Dorf, in dem meine Uroma und ihre Schwester lebten. Meine Uroma und zwei Schwestern waren während des Mauerbaus 1961 im Osten geblieben – in dem brandenburgischen Dorf Wusterwitz sowie in Ost-Berlin. Alle anderen Geschwister meiner Uroma mütterlicherseits waren in West-Berlin. Wenn sie und ihre Nachkommen zu Besuch nach Wusterwitz kamen und wir uns alle bei meiner Uroma einfanden, war das ein Highlight. Für uns Kinder gab es Süßigkeiten – Haribo Goldbärchen, Schogetten und Milky Way. Für die Erwachsenen gab es Kaffee, Waschpulver und Seife von Palmolive oder Lux. Ich lechzte nach Westschokolade – sie schmeckte mir einfach besser als die, die wir sonst hatten, und außerdem war sie so schön bunt verpackt. Und wie es so ist mit Dingen, die man nicht haben kann…
Westprodukte waren für mich Luxus. Meine große Schwester und ich hoben die Plastiktüten von Aldi und Plus auf, die es zu unserer Uroma nach Wusterwitz geschafft hatten – wir fanden sie schick! Ich erinnere mich, dass eine Freundin meiner Schwester einmal mit einer Aldi-Tüte in die Schule kam. Die anderen Schüler bewunderten sie dafür. Von der Klassenlehrerin wurde sie getadelt. Es war von manchen Lehrern, die besonders gewissenhaft der Staatsmacht folgten, nicht gern gesehen, mit West-Artikeln in die Schule zu kommen.
Meine Schwester und ich bewahrten sogar das Verpackungspapier einer Milka-Schokolade auf. Wir bügelten es mit unseren Händen und falteten es sorgfältig.
Manche im Osten hatten das Glück, „Westpakete“ zu bekommen. Meine Eltern waren zu stolz, um ihre Westverwandten um Pakete zu bitten. Mama sagt, wir hätten nie ein Paket bekommen. Ich erinnere mich aber an eins. Es duftete nach einem ganz speziellen Mix aus Seife, Kaffee und Süßigkeiten. Er zeugte von einer anderen, fremden, faszinierenden Welt. Einem Sehnsuchtsort.
Verstärkt wurde das Gefühl der Sehnsucht durch die Werbung. Offiziell durfte man kein West-Fernsehen schauen. Meine Freundin Angela und ich liebten die Werbespots im ZDF. Wir spielten sie nach der Schule in unseren Kinderzimmern nach und nahmen uns sogar dabei mit dem Kassettenrecorder auf. Am liebsten „Storck Schokoladen-Riesen“. Abwechselnd waren wir der kleine Junge Michael und Frau Lange, die ihm immer einen Storck Schokoladen-Riesen-Bonbon gab – selbst viele Jahre später, als er dann ein junger Mann und sie eine Oma war. Wir lachten uns schlapp, wenn wir mit unseren Kinderstimmen den erwachsenen Michael und die großmütterliche Frau Lange spielten. Viel Spaß hatten wir auch beim Nachspielen der „Yes-Törtchen“-Werbung. Ein junges verliebtes Paar in einem Zelt und es regnete. Sie dachte, er hätte ihren Geburtstag vergessen, doch dann zauberte er ein Yes-Törtchen hervor mit einer kleinen Kerze drauf und sang „Happy Birthday to you“, sie verzückt quiekend. Auch hier tauschten wir begeistert die Rollen.
Von den West-Süßigkeiten mochte ich – neben Haribo – am allerliebsten Milky Way. Ein kleiner Schokoriegel mit einer luftig-cremigen Milchfüllung. Das blau-weiße Plastikpapier mit den Sternen und dem lässig geschwungenen Schriftzug die unendlichen Weiten des Universums versprechend. Der Werbespot war für mich als Kind Sinnbild für den Westen. Eine hübsche, sportliche Mutter, die schmunzelnd von ihrem Jungen erzählte, der den luftig-leichten Milch-Riegel als Snack zwischen den Mahlzeiten bekam. So locker und leicht, dass er sogar auf Milch schwamm – wie sie lächelnd demonstrierte. In Zeitlupe tauchte der Schokoriegel in eine Glasschüssel aus Milch – plautsch spritz – um daraufhin die Oberfläche entlang zu gleiten.
Ich bin ja davon überzeugt, dass weder Gorbatschow noch Ronald Reagan die Mauer zum Einsturz gebracht haben, auch nicht der Verkünder ihrer Öffnung, Günther Schabowski, und auch nicht David Hasselhoff, sondern Milky Way.
Die Mauer habe ich bis zu ihrem Fall am 9. November 1989 nie gesehen. Wir kamen da ja gar nicht hin. Wenn wir nach Berlin rein wollten, mussten wir mit unserem Trabi immer um die halbe Stadt Richtung Osten fahren. Brandenburg an der Havel liegt nur 65 km südwestlich von Berlin, aber wir mussten bis zum Mauerfall einen riesigen Umweg Richtung Osten fahren, um überhaupt in die Hauptstadt der DDR zu gelangen.
Nach dem Mauerfall bekam jeder DDR-Bürger 100 D-Mark Begrüßungsgeld. Meine Eltern kauften für die ganze Familie ein. Ich erinnere mich daran, dass meine Schwester und ich jeweils einen Sony-Walkman bekamen und Kassetten. Eine davon war von der ersten Boyband, New Kids on the Block. Eine andere von Paula Abdul. Und ich bekam flauschige Tiger-Ohrenschützer, denn es war kalt.
Die Ernährung im Osten war im Nachhinein ziemlich gesund. Es gab kein Fastfood und weniger Lebensmittel mit Zusatzstoffen – sofern ich mich erinnere. Wir ernährten uns saisonal und regional – es gab ja nichts anderes, außer selten mal Bananen und Apfelsinen aus Kuba. Mama war sehr kreativ beim Kochen. Wir hatten keine italienischen Restaurants – somit kannte ich keine italienische Pizza, sondern nur die Pizza von Mama – ein großes Blech mit einem dicken Teig und einem doppelt so dicken Belag. Als ich 13 Jahre später in Italien lebte, musste ich oft bei dem Gedanken lachen. Aber ich liebe die Ossi-Pizza von Mama noch heute und freue mich wie ein Keks, wenn sie das Prachtwerk zaubert!
Auffällig ist, dass nach dem Mauerfall die Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck, erhöhtes Cholesterin und Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Osten zunahmen. Dazu gibt es interessante Studien. Eines der ersten Geräte, das meine Eltern kauften, war eine Mikrowelle. Die gab es in der DDR nicht. Meine Eltern kauften dann Mikrowellen-Gerichte, die meine Schwester und ich nach der Schule erwärmen konnten. War einfach und ging schnell. Und sie kauften ein Buch namens „Rezepte für die Mikrowelle“. Meine Schwester und ich sind noch heute traumatisiert von Mama‘s Bratkartoffeln aus der Mikrowelle. Meine Eltern haben die Mikrowelle Gott sei Dank irgendwann wieder abgeschafft.
In der DDR musste man erfinderisch sein, weil man ja nicht immer Zugang hatte zu bestimmten Dingen. Papa – er war zu DDR-Zeiten Ingenieur – nähte für meine Mama und meine Teenager-Schwester stylische Klamotten. Für Mama nähte er die tollsten Kostüme. Er färbte ihr die Haare und machte ihr eine Dauerwelle. Die Möbel, die er für unsere Plattenbauwohnung baute, würden heute auf Instagram Tausende von Likes kriegen. Er tunte unseren uralten Trabi mit Renn-Motor, Front-Spoiler und Rallye-Streifen. Unser Trabi war durch die auffällige Lackierung in der ganzen Region bekannt. Ich erinnere mich daran, wie das Auto umgedreht bei uns vor der Datsche stand und Papa daran schraubte. Als die Mauer fiel, ist uns der alte Trabi buchstäblich unterm Hintern zusammengebrochen.
Meine Eltern waren sehr kreativ. So hatten meine Schwester und ich nicht wirklich ein Gefühl von Mangel.
Aber bestimmte Dinge habe ich trotzdem vermisst. Zum Beispiel ein Telefon. Dafür musste man einen Antrag stellen. Das haben meine Eltern im Jahr meiner Geburt gemacht. Er wurde nie genehmigt. Noch vorm Mauerfall, als ich meine Eltern fragte „Warum haben wir kein Telefon?“, antworteten sie: „Wir warten darauf, seit es dich gibt. Neun Jahre lang.“
Und auch schon als Kind fühlte ich die wachsende, schmerzhafte Sehnsucht nach Ländern, die man nicht bereisen durfte. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, warum wir nicht Urlaub machen konnten in den Ländern, in denen meine Idole lebten. Terence Hill und Bud Spencer in Italien, Patrick Swayze in den USA, Winnetou äh Pierre Brice und Sophie Marceau in Frankreich, Kylie Minoque in Australien.
Gleich nach dem Mauerfall wollte man natürlich den Westen entdecken, nicht nur Westberlin. Es gab Busreisen für die Ossis in westdeutsche Städte. Wir sind als erstes nach Hamburg gefahren, dort hatten wir auch eine Tante. Ich werde nie vergessen, wir wir mit dem Bus durch Hamburg fuhren, durch diese wunderschöne Stadt mit ihren vornehmen Villenvierteln. Und dann durchs Rotlichtviertel.
In den Schaufenstern saßen Sexarbeiterinnen. Ich war geschockt mit meinen zehn Jahren. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Halbnackte Frauen in Strapsen, die sich im Schaufenster räkelten. Ich erinnere mich, wie die Opas im Bus ihre Nasen am Fenster platt drückten. Auch Bettler hatte ich noch nie gesehen. Das befremdete und ängstigte mich – neben der Faszination und Freude über den „goldenen Westen“.
Auch 35 Jahre später bin ich glücklich und dankbar, dass es die Mauer nicht mehr gibt. An diesem Jubiläum denke ich besonders an meinen einstigen Professor und Mentor Günther von Lojewski, der als Intendant des SFB (Sender Freies Berlin) am Abend des 9. November nach ersten Gerüchten sofort Kamera-Teams zur Mauer geschickt hat, die als erste vor Ort waren. Die Bilder sind um die Welt gegangen.
Da ich meine Pubertät und komplette Teenagerzeit im Westen verbracht habe, bezeichne und fühle ich mich als Wossi. Dass aber das Land, in dem ich geboren wurde und Kind war, wie mit einem Tintenkiller weggezaubert und mit neuer Tinte überschrieben wurde, beschäftigt mich.
Und ich könnte und würde gerne an dieser Stelle noch mehr schreiben, aber dann wäre es ein Roman.
Ich hab gerade nach 35 Jahren mal das Experiment gemacht. Schwimmt Milky Way immer noch? Sieht in meiner Milch-Schale zwar lange nicht so verführerisch aus wie in der Werbung, aber ja, es stimmt: „So leicht – schwimmt sogar in Milch!“
Deine vielen Erinnerungen rühren mich. Auch, oder gerade, weil ich auf der anderen Seite, im Westen war – mit einem Teil der Familie in Ostberlin, für die ich mit meinen Eltern als Kind die Westpakete in die „Ho-Chi-Minh-Straße“ (heute Weißenseer Weg) bestückte. Unsere Verwandten haben nie um West-Pakete gebeten – es war viel mehr so, dass sie von meinen Eltern und meiner Tante geradezu gedrängt wurden, uns mitzuteilen, welche Sachen schwer zu bekommen sind, mit denen man ihnen eine Freude machen könnte. In jedem Paket waren Nylon-Strumpfhosen, Jacobs-Kaffee, „die Krönung“, Milka-Schokolade, Ritter Sport, Sarotti und bestimmt auch Schogetten. Schokoriegel wie Milky Way aber nicht, damit verband meine Familie eher ein neumodisches Kinkerlitzchen-Produkt für Kinder. Fällt mir jetzt erst auf, dass ich mir Schokoriegel wie Snickers (mein Favorit) immer selber gekauft habe. Oft kam die Rückmeldung aus Ostberlin, dass das Paket augenscheinlich vor der Zustellung geöffnet und wieder zugeklebt worden war, ebenso die Briefe. Alles wurde genau untersucht.
Dass ein Telefon ein Luxus für Ost-Familien war, hatte ich auch vergessen. In dem Brief von der Ostberliner Großtante an meine Eltern von 1963, den ich neulich gepostet hatte, war am Ende des Briefes die Nummer vom Telefon-Anschluss vermerkt, den sie hatten. Aber da hatte die Familie meines Wissens noch gar keine besonderen Kontakte. Wenn ich die Geschichten und Mitteilungen aus Ostberlin hörte, entstand bei mir vor allem der Eindruck einer starken Überwachung und Vorsicht bei der Kommunikation Richtung der West-Verwandten. Aber der Lebensstandard wirkte auf mich nicht so bedauernswert und auch gar nicht stark von dem meiner eigenen Familie abweichend – wir hatten ja auch nur eine Doppelhaushälfte, keine Villa und Mama achtete auf Sonderangebote. Ich hatte in den Siebzigern anfänglich „Jingler“-Jeans von C & A statt der begehrten, viel teureren „Wrangler“, bis ich mich bockig durchsetzte.
Und da unser Ostberliner Onkel Wolfgang als gefragter Jazz-Drummer nicht nur mit Manfred Krug spielte, sondern bald zum Reisekader gehörte, um mit Günther Fischer und anderen Jazz-Formationen zu Festivals ins westeuropäische Ausland reisen zu können, schien es ja doch irgendwie nicht so schlimm zu sein. Der kam mehr rum, als mein ebenfalls musizierender Vater im Westen. Aber das war natürlich eine privilegierte Konstellation, die nur Politiker, Sportler, Wissenschaftler oder Kulturbotschafter aus der DDR hatten.
Zur Zeit des Mauerfalls arbeitete ich in Steglitz, wo die große Einkaufsstraße, die „Schloßstraße“ liegt. In den Mittagspausen ging ich oft dort entlang, kaufte ein oder ging in eines der Kaufhäuser oder vielen Schuhgeschäfte, die sich dort wie auf einer Perlenkette aneinander reihten. Nach dem 9. November 1989 war die immer schon gut besuchte Schloßstraße dermaßen mit neugierigen Ostberlinern bevölkert, dass man kaum noch Platz auf dem Gehsteig fand. Ich bekam einen sehr starken Eindruck von den Unterschieden im Kleidungsstil. Damals waren stone-washed Jeans gerade aus der Mode gekomme und die Ossis trugen sie stolz. Nachhaltig! Und viele beige Jacken. Und einmal kam mir ein älterer Mann entgegen, der hatte eine fast leere Plastiktüte in der Hand, trug sie, als wäre sie eine feine Ledertasche. Ich weiß nicht mehr, ob sie von Aldi war oder einem anderen West-Supermarkt. Ich erkannte das veraltete Logo, so sahen die Tüten des Ladens schon seit vielen Jahren nicht mehr aus. Die Farben waren bereits verblichen, sie war auch leicht geknittert. Wie eine Reliquie aus einem Museum. Das rührte mich dermaßen, dass mir die Tränen kamen. So viel Wertschätzung für eine Plastiktüte aus dem Westen.
Danke für Deine Erinnerungen, Saskia.
P.S. Gerade fällt mir ein, ich hab das Silber-Papier der Milka-Schokolade auch immer vorsichtig aufgemacht und dann mit dem Daumen-Nagel glatt gestrichen. Das sah so schön aus. Weiß aber nicht mehr, ob ich danach irgendwas damit gemacht habe. Mir entfallen… aber ich hebe heute noch schöne Schokoladenverpackungen auf und verwurste Teile davon manchmal in meinen Bildern 🙂