Seit ich erwachsen bin, werde ich häufig von wildfremden Menschen nach dem Weg gefragt. Ehrlich gesagt fast täglich. Manchmal werde ich einfach nur so angesprochen, auf abstruseste Dinge. Ich weiß nicht, woran das liegt. Meine Mutter sagte damals, als es anfing, ich hätte das von ihr geerbt, denn ihr würde das auch ständig passieren. Wir hätten anscheinend etwas „Soziales“ in unserem Blick.
Das Komischste war mal, als ich mit Anfang zwanzig am Wittenbergplatz einen Apfel kauend auf die U-Bahn wartete und eine ältere Frau auf dem Bahnsteig zu mir angelaufen kam, eine Handbreit vor mir stehen blieb und sagte: „Naaa, knurbscht schön, wa?“ Und dann wieder ging. Das war die kürzeste Konversation, an die ich mich erinnern kann. Ich werde allerdings auch von Leuten angesprochen, wenn ich böse kucke. Zumindest habe ich es versucht. Als ich mal in Mailand lebte und als damalige Superblondine manchmal am helllichten Tag von Jungscliquen verfolgt wurde – und das in Norditalien! – habe ich mir einen eisigen, starren Victoria-Beckham-Blick zulegt, den ich mit zurück nach Berlin nahm. Hat aber nicht viel gebracht. Es ist ja auch nicht so, dass ich Fragen nach dem Weg oder anderen Dingen nicht gerne beantworte. Ich gebe wildfremden Fragenden auf der Straße gerne noch Extra-Tipps und freue mich dann über die leuchtenden Augen. Ich hab auch schon mal, weil ich gerade Zeit hatte, ein Rentnerpaar zu ihrem Ziel geführt und dabei einen kleinen Vortrag über die Rosenthaler Vorstadt gehalten (der Kiez in Mitte, in dem ich lebe). Und junge Touristinnen, die mich fragten, wo man hier leckeren Kuchen essen kann, habe ich direkt zum Café „Bei Maria“ meiner Freundin Maria geführt. Im fernen Wannsee, als mich mal eine Frau im strömenden Regen fragte, wo man dort schnell einen guten Mittagssnack kriegt, schickte ich sie direkt zum leckeren überdachten Pierogi-Stand neben dem Yachtclub. Und als mich im westlichsten Bezirk Berlins jemand fragte, wie er am besten zu den „Gärten der Welt“ im östlichsten Bezirk Berlins gelangt, verriet ich ihm freundlich die schnellste Route und legte ihm ans Herz, das Teehaus „Berghaus zum Osmanthussaft“ im Chinesischen Garten aufzusuchen und empfahl ihm außerdem den Kuchen und die heiße Schokolade im „The Cottage“ im Englischen Garten. Ich werde aber nicht nur in Berlin nach dem Weg oder anderen Dingen gefragt. Ist mir auch schon in Gelsenkirchen und auf Malta passiert. Es gibt nur zwei Situationen, in denen ich meine Auskunft verweigere und in denen ich richtig böse werde, wenn man mich anquatscht.
1.) Wenn ich gerade telefoniere. Es ist unglaublich, aber es gibt Leute, die einen auf der Straße anlabern, wenn man gerade sein Handy am Ohr hat. Oder mit sichtbaren Ear-Pods vor sich hin spricht. (Deshalb benutze ich draußen nur Ear-Pods mit Kabel, um noch geschäftiger und distanzierter zu wirken).
2.) Wenn ich gerade esse. Das finde ich noch schlimmer, als beim Telefonieren angequatscht zu werden. Ich esse selten auf der Straße, ich mag das eigentlich nicht, aber kann ja mal vorkommen, dass man sich ausgehungert eine Bratwurst oder nen Döner reinzieht. Letzteren verschlang ich gierig, als ich am S-Bhf Friedrichstraße auf die Tram wartete. Ein jüngeres Touri-Pärchen kam wie in Zeitlupe direkt auf mich zugelaufen. Es standen noch viele andere Leute an der Haltestelle! Ich ahnte Schlimmes. Ich hatte gerade in den saftigen Döner gebissen, unfähig zu reden. Da setzte SIE auch schon an und fragte mich nach dem Weg nach irgendwo. Ich sah IHM an, dass es ihm saupeinlich war. ER hatte die Übergriffigkeit und das schlechte Benehmen seiner Freundin natürlich erkannt. Es schien aber so, dass er sich nicht mit ihr anlegen wollte. Ich grunzte nur böse mit meinem vollen Mund, funkelte sie mit zornigen Augen an, drehte mich kauend weg und stapfte wie ein wütender King Kong zum anderen Ende der Haltestelle. Innerlich beschimpfte ich sie mit den fiesesten Worten, die man sich nur vorstellen kann. Ihre Reaktion war ein entsetzter Blick gewesen – SOLCH ein Verhalten hatte sie wohl nicht von einer Einheimischen erwartet. Ihr Freund wiederum hatte beschämt und verständnisvoll die Augenlider gesenkt.
Seitdem versuche ich es zu vermeiden, draußen zu essen, ich könnte ja dabei angesprochen werden. Nur auf Weihnachts- oder Wochenmärkten geht es natürlich nicht. In den letzten drei Jahren ist mein Victoria-Beckham-Blick einem liebevollen, milden Lächeln gewichen. Das liegt daran, dass ich oft an meine kleine Tochter denke, wenn ich alleine in der Gegend rumlaufe. Manchmal bemerke ich mein Dauerlächeln erst, wenn es zu spät ist, also wenn mich das Gegenüber, das sich angelächelt fühlte, dann selber anlächelt oder plötzlich anspricht.
Hier ein paar Beispiele von Fragen, die mir draußen so innerhalb der letzten Woche von wildfremden Personen gestellt wurden.
Brunnenstraße, Berlin Mitte, Frau um die 40: „Können Sie mir sagen, wo man hier richtig schöne Dessous kaufen kann?“
Werder (Havel), Bahnhof, Rentnerpaar: „Sagen Sie mal, kennen Sie sich hier aus? Wir suchen die Bockwindmühle.“
Im Regio, Potsdam Hauptbahnhof, Student ca. Mitte 20, kurz vorm Verlassen des Zuges: „Kannst du mir verraten, wie dein Parfum heißt? Ich würde es gerne meiner Freundin zum Geburtstag schenken.“
Beim eiligen Überqueren des Friedhofs Sophien II, Berlin Mitte, Frau um die 70: „Sagen Sie, wo finde ich das Grab von Carl Bechstein?“ (Anm. der Red.: ein berühmter Klavierbauer, 1826-1900, nach dem der berühmte Bechstein-Flügel benannt ist).
Neulich, als meine Freundin Ilknur und ich in einem Shuttle-Service zu einer Premierenparty mitgenommen wurden, saß hinten auf der Rückbank eine Frauenpuppe neben mir. Mit schwarzer Sonnenbrille, langen platinblonden Haaren, großer Oberweite, das Abendkleid ein Hauch von Nichts. Auf ihrem Schoß ein riesiger Becher voll Popcorn. Ich fragte den Fahrer – der uns vorgewarnt hatte – nicht, warum da diese Puppe sitzt. Nahm es so hin und genoss die Fahrt. Plötzlich drehte die Puppe ihren Kopf nach links zu mir und sagte mit ganz leiser, feiner, aber für mich noch hörbarer Stimme: „Sag mal, darf ich dich was fragen? Was ist die größte Frage, die du dir selbst stellst?“
Habt ihr euch das schon mal gefragt? Also ich bin noch am Überlegen.
„(…) grunzte nur böse mit meinem vollen Mund, funkelte sie mit zornigen Augen an, drehte mich kauend weg und stapfte wie ein wütender King Kong zum anderen Ende der Haltestelle. Innerlich beschimpfte ich sie mit den fiesesten Worten, die man sich nur vorstellen kann.“
Aha. Du bist also die diejenige, die für den schlechten Ruf der Berliner verantwortlich ist, von wegen kurz angebunden, derb und pampig. Ich seh Deine King Kong-Schnute direkt vor mir 🙂 Okay, das war ein Ausrutscher, ansonsten scheinst Du im gesättigten Zustand ja geradezu prädestiniert für den Beruf der Fremdenführerin zu sein.
Kleine Stilkritik: im öffentlichen Raum wie U- oder S-Bahn Videocalls und Telefonate, insbesondere Arbeitsbesprechungen zu führen, die andere mithören können (also wenn Du dann antwortest), empfinde ich als Mitreisende sehr unerquicklich. Arbeitspalaver stört mein Wellness-Bedürfnis, da werde ich auch schon mal pampig, wenn ich mir die Interna einer sterbenslangweiligen Teambesprechung anhören muss. Meist versuche ich ein Buch zu lesen, was dann scheitert, da ich den Palaver nicht ausblenden kann. Anders verhält es sich mit Beziehungstratsch unter Freundinnen, da höre ich gerne mal mit, da der Themenkomplex zu meinen privaten Interessen gehört. Imbiss unterwegs finde ich im Einzel(not)fall tolerabel, aber auch nur wenn die Nahrungsaufnahme nicht von Gekrümel, Tütengeraschel, Schmatzen und Zwiebel- oder Koblauchgeruch begleitet wird. Ich bin da recht altmodisch, stelle ich fest. Seit ich vor 26 Jahren nach Mitte gezogen bin, habe ich zunehmend die Vorstellung entwickelt, dass ich bei meinen Wegen von A nach B in unserer stark touristisch frequentierten Ecke von Berlin, eine Vorbildfunktion in Sachen Außenwirkung der Berliner Bevölkerung auf Touristen habe. Ich versuche mich möglichst gut zu kleiden, um auch auf eventuell entstehenden Reisefotos der Berlin-Gäste, ein Element abzugeben, das nicht wegretuschiert werden muss. Die Touristen sollen mit dem Eindruck abreisen: „tolle Leute hier!“ Dazu gehört natürlich auch die von dir praktizierte Offenheit mit proaktiven Freizeitgestaltungshinweisen. Du bist da schon ganz, ganz weit vorne! 🙂
Danke, liebe Gaga! 🤗 In öffentlichen Verkehrsmitteln (laut) zu telefonieren, missbillige ich auch – da bin ich ganz bei Dir (Ausnahme Beziehungsgespräche – auch da bin ich ganz bei Dir 😂) Schlimm, diese wichtigtuerischen „Arbeitsbesprechungen“. Erst neulich saß in der Tram ein Typ neben mir – also wenn er alt war, dann so Mitte 30 – der für alle Fahrgäste hörbar seinem Mitarbeiter ein „Feedback“ zu seiner enttäuschenden Arbeitsleistung gab.
Was ich meinte, ist das Telefonieren beim Spazierengehen / die Straße entlanglaufen – und trotzdem dabei unglaublicherweise angesprochen werden 😅
Imbiss einnehmen in öffentlichen Fahrzeugen finde ich aus den von Dir genannten Gründen auch ganz schlimm! Finde ich sehr gut, dass Du in Sachen Stil und Außenwirkung eine Vorbildfunktion übernimmst und die Touristen nicht nur mit Deiner Nettigkeit erfreust. Das Auge reist schließlich mit! 😃