Der erste Satz kommt angeflogen. Oh wow, ja, genau darüber schreibe ich, das könnte das Thema meiner nächsten Kolumne sein! Ach Gott sei Dank, ich hatte schon Angst mir fällt nichts ein. Übermorgen ist Wochenmitte und ich muss liefern! „Hahaha, wer zwingt dich denn zu liefern?“, meldet sich sofort das innere koboldhafte Stimmchen, „doch nur du selbst? DU hast doch die Klappe so weit aufgerissen! Die Mitteschnitte zur Wochenmitte! Nur du du du!“
„Sei still“, sage ich. „So lange mich die Muse küsst, und wenn ich auch immer erst auf den letzten Drücker schreibe, mache ich weiter!“
Der innere Kobold ist erfreulich schnell verstummt, denn ich habe ja mein neues Thema und meinen ersten Satz und den jage ich in mein Handy und darauf folgt der zweite Satz und –
Er, gerade in die Küche kommend: „Kann ich dir kurz was erzählen? Hast du schon die Nachrichten gelesen?“
Ich: „Nee sorry, ich schreibe gerade meine neue Kolumne, ich kann mich gerade auf nichts anderes konzentrieren!“
Er: „Verstehe, klar! Ist ja wie bei Thomas Mann oder Fallada.“
Ich: „Genauso ist es! Danke und bis später!“
Kind, in die Küche kommend: „Mama Mama kuck mal, ich habe einen Hund gemalt!“
Ich: „Oh, das sind aber schöne Farben. Das gefällt mir sehr gut! Die roten Ohren und die gelbe Nase sind ein fröhlicher Mix!“ (Ich versuche neuerdings, nicht immer zu sagen: „Ooh wie toll!“, was natürlich einfacher wäre, sondern konstruktiv zu loben. Jetzt, wo mich gerade die Muse küsst, würde ich aber gerne nur sagen: „Ooh wie toll!“)
Kind rennt ins Wohnzimmer und ich bin wieder alleine in der Küche. Die Gedanken sprudeln. Ich schreibe, lösche, stelle um, schiebe ein, schreibe –
Kind neben mir am Küchentisch stehend: „Mama Kacka! Kackawuuurrrst!“
Türklingeln. Er kann nicht öffnen, da gerade in der Dusche. Ich laut zischend und wutschnaubend meinen kreativen Prozess unterbrechend und zur Wohnungstür rennend.
Ein DHL-Bote, der ein Päckchen hat für Nachbarn zwei Etagen über mir, die aber zu Hause sind, wie ich weiß. Sie seien nicht da, ob ich es annehmen kann. Der DHL-Bote lüüügt! „Ja, klar, mache ich. Schönen Tag noch!“

Zersägte Konzentration (Quelle: Uniklinikum Erlangen): „Wer bei einer konzentrierten Tätigkeit unterbrochen wird, erlebt den ‚Sägeblatt-Effekt’: Jede Störung – und sei sie noch so kurz – beansprucht nicht nur die Zeit der Unterbrechung an sich, sondern zusätzlich auch eine Wiederanlaufzeit, die sich mit jeder weiteren Ablenkung verlängert.“1
Ich denke an Jack Nicholson in dem Film „Besser geht‘s nicht“. Jack als zwangsneurotischer, misanthropischer, politisch zutiefst unkorrekter Schriftsteller Melvin zu seinem total lieben und sympathischen Nachbarn Simon, der ihn gerade durch Klingeln an der Tür beim Schreiben einer romantischen Szene störte:
„Also ich arbeite rund um die Uhr. Und ich wünsche niemals unterbrochen zu werden – klar? Auch nicht wenn es brennt. Nicht mal, wenn Sie aus meiner Wohnung einen dumpfen Schlag hören und eine Woche später ein Geruch von da drinnen kommt, der nur von einer verwesenden menschlichen Leiche stammen kann und man sich ein Taschentuch vors Gesicht halten muss, weil der Gestank so ekelhaft ist, dass man meint, man kippt gleich um! Selbst dann haben Sie hier keinesfalls zu klopfen. Oder wenn Wahlnacht ist und Sie aufgeregt sind und feiern wollen, weil irgendeine Fummeltrine, mit der Sie was haben, zum ersten schwulen Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden ist. Und er Sie persönlich eingeladen hat nach Camp David und Sie das Bedürfnis haben, Ihr Glück mit jemandem zu teilen. Selbst dann: Klopfen Sie nicht. Nicht an diese Tür. Egal – egal was auch passiert. Hast du mich verstanden, Schätzchen?“
Da ich nicht Jack Nicholson bin, verschwinde ich gleich mal an einen Ort, wo mich niemand unterbrechen kann. In mein parkendes Auto, eine geheime Bar oder in die Tram. Ich schreibe ja manchmal gerne in der Tram. Allerdings bin ich auch dort nicht vor verbalen Unterbrechungen gefeit. Was ich da kürzlich erlebt habe, erfahrt ihr in meiner nächsten Kolumne. Ich muss jetzt schnell los!
- https://www.uk-erlangen.de/stoerung-ist-standard/#:~:text=Wer%20bei%20einer%20konzentrierten%20Tätigkeit,mit%20jeder%20weiteren%20Ablenkung%20verlängert.
Bönisch, Kerstin/Uniklinikum Erlangen: „Störung ist Standard“, 2022 ↩︎
„Ich versuche neuerdings, nicht immer zu sagen: „Ooh wie toll!“
Ich auch 🤗 Auf der anderen Seite fällt es mir dann schwer, mich über „Ooh wie toll“, „Super Präsentation“ oder ähnliche Komplimente zu freuen 🙈 Brauchbares Feedback geben ist sehr wichtig und nicht einfach 😎
Übrigens habe ich jetzt Lust bekommen, den zitierten Film nochmal anzuschauen. Ich denke zum 5ten Mal 😉
👍❤️🤣
🙏🥰😍😂