„Ich hoffe, dass das, was ich schreibe, die Menschen bewegt. Ich hoffe, es bringt sie zum Lachen; ich möchte die Leute immer zum Lachen bringen. Und es macht mir überhaupt nichts aus, wenn sie über das, was ich geschrieben habe, weinen, denn ich denke, es gibt viele Dinge im Leben, über die man weinen kann.“1 (Lily Brett).
Das Spiel zwischen Leichtigkeit und Schwere, zwischen Humor und Tiefe, ist es, was ich an den Büchern von Lily Brett so liebe und das auch für den Abend steht, von dem ich heute erzählen möchte.
Freitag am frühen Abend im KLICK Kino in Berlin-Charlottenburg. Ich sitze draußen am Café-Tisch mit meiner Freundin Maria, vor mir drei Bücher meiner Lieblingsschriftstellerin, die in New York lebt. Und die gerade in Deutschland weilt und in zwei Stunden im Kino eine Lesung geben wird, gefolgt von der Aufführung des Films „Treasure“, der 2024 auf der Berlinale und auf dem Tribeca Film Festival gefeiert wurde. Der Film basiert auf ihrem Roman „Zu viele Männer“, in den Hauptrollen Lena Dunham und Stephen Fry.
Hier eine kurze Bio für alle, die sie noch nicht kennen: Lily Brett wurde 1946 im bayerischen Feldafing geboren, in einem Lager für Displaced Persons und ist die Tochter zweier polnisch-jüdischer Auschwitz-Überlebender. Sie wuchs in Australien auf, arbeitete als Musikjournalistin und interviewte bereits mit Anfang zwanzig Rockgrößen wie Mick Jagger, Jimi Hendrix und Janis Joplin. Seit 1989 lebt sie in New York. Ihr literarisches, international beachtetes Werk kreist um Themen wie Generationentrauma, Holocaust-Nachwirkungen, Körperbild und Identitätsfindung sowie das Leben in New York City. Mit einem einzigartigen Ton zwischen lakonischem Witz und emotionaler Tiefe erzählt sie vom Jonglieren zwischen Erinnerung und Gegenwart. Dabei gelingt ihr etwas Besonderes: Sie zeigt, wie ein Trauma, das man selbst nie erlebt hat, das ganze Leben durchdringen kann – und wie Sprache, Humor und Selbstreflexion zu Mitteln werden, damit klar zu kommen.
Ich bin aufgeregt. Ich habe eine Reihe Bücher von Lily Brett gelesen, aber sie noch nie live erlebt. Auf Instagram hatte ich ihr ein paar Tage zuvor spontan eine Nachricht geschrieben, dass ich mich sehr auf ihren Besuch in Berlin freue und dass ich fast alle ihre Bücher gelesen habe. Sie hatte sehr herzlich geantwortet, dass ich bitte alle meine Bücher zum Signieren mitbringen möge.
Maria und ich haben uns viel zu erzählen und genießen die Atmosphäre in der Windscheidstraße. Eine Straße, die wie eine Oase in der Großstadt wirkt – in ihrer nostalgisch-lässigen Mischung aus eleganten Stuck-Altbauten und alternativen Cafés, Antiquitäten- und Feinkostläden, von der Sommersonne in warmes Gold gehüllt.
„Lily, you will recognize the cinema. There are coffee tables in front, and at one of them are two women sitting with three of your books.“
Am Nachbartisch telefoniert Julia von Heinz, die Regisseurin des Films. Wir drei kommen locker und sehr nett ins Gespräch. Ich frage sie, wie es dazu kam, dass sie „Zu viele Männer“ verfilmt hat. Sie erzählt, dass sie selbst ein großer Fan von Lily Brett war, dass ihre Mutter sie auf die Bücher gebracht hatte und dass sie Lily 2013 einfach auf Facebook angeschrieben hat. Zehn Jahre lang hat sie an dem Projekt gearbeitet, in enger Kooperation mit Lily Brett, woraus eine tiefe Freundschaft entstanden ist.
Ich bin beeindruckt von soviel Engagement, Unermüdlichkeit und Herzblut.
„Treasure“ hat wiederum ARTE inspiriert, eine Doku über Lily und ihr Leben zu drehen. Deshalb ist heute Abend auch ein Filmteam von ARTE anwesend. Ein Kameramann macht Nahaufnahmen meiner drei Buchexemplare auf dem Café-Tisch.
Eine zarte, charismatische Frau erscheint. In einem schwarzen Kleid mit weißen Punkten und schwarzem Turbanhut. Sie lächelt schüchtern. Lily Brett. Sie ist noch nicht mal an der Tür angekommen, da bestürmen sie zwei Frauenzimmer mit ihren Buchexemplaren und bitten um Autogramme. Freundlich und geduldig signiert sie und wir sind unangenehm berührt, wie man so aufdringlich sein kann. Man muss sie doch erstmal in Ruhe ankommen lassen!
Ihr Mann, der Maler David Rankin, geleitet sie liebevoll an der Hand ins Foyer.
Der Kinosaal ist bereits rappelvoll, die ersten zwei Reihen reserviert für das Filmteam und Lily‘s Familie – auch eine ihrer Töchter sowie zwei bezaubernde Enkelkinder sind dabei.
Wir ergattern noch 4 Plätze in der sechsten Reihe, denn Jenny und Gaga, denen ich von der Veranstaltung berichtet hatte, stoßen gleich zu uns.
In der Reihe hinter mir sagt eine Frau mit Insider-Tonfall: „5,5 Millionen Förderung haben sie bekommen.“ Aha, soso, interessant.
Wir vier Frauen sitzen nun beisammen, gespannt auf das Geschehen vor der Leinwand. Nach einer Anmoderation durch das ARTE-Team und dem Hinweis, dass gefilmt wird, betritt Lily die Bühne und kündigt an, dass sie aus ihrem Buch „Lola Bensky“ lesen wird. Ich freue mich, denn es zählt zu meinen Lieblingsbüchern. Ein semi-autobiografischer, schonungsloser Roman über eine junge Musikjournalistin, die zwischen der Rockstar-Welt und den großteils unausgesprochenen Traumata ihrer Eltern versucht, ihre eigene Identität zu finden.
Ich kann Lily nur manchmal erspähen, denn vor mir ist ein großer Kopf und vor diesem ein weiterer großer Kopf mit trapezförmiger Haarpracht. Ich beschließe, meinen Hals nicht hin- und her zu verrenken, sondern mich auf ihre Stimme einzulassen. Und diese ist warm, dunkel, angenehm – eine Stimme, der man zuhören will. Die aber durch das zu leise eingestellte Mikro noch nicht bis nach hinten klingt. „Lauter! LAUter!“ blöken ein paar Wachteln. Ich könnte vor Fremdscham im Kinosessel versinken. Scham ist ja schon ein unangenehmes Gefühl – aber Fremdscham ist es nicht minder.
Das Mikro wird justiert und Lily liest aus „Lola Bensky“ von einem erstaunlich tiefgründigen Interview mit Mick Jagger, zu dem sie in den 60ern als Reporterin eines australischen Rockmagazins geschickt wurde. Und von einer Begegnung mit Cher, während der diese sich die künstlichen diamantbesetzten Wimpern von Lola alias Lily auslieh und nie zurückgab.
Die Verbindung zum später gezeigten Film „Treasure“ besteht darin, dass ihr Vater in der autobiografisch inspirierten Geschichte beim Besuch in Polen gegenüber sämtlichen Leuten prahlt, dass seine Tochter berühmt sei. Was sie immer unangenehm berührt richtig stellt, nämlich dass sie als Journalistin nur berühmte Leute interviewt, selber aber nicht berühmt sei.
„Cher! Na klar! Jetzt weiß ich, an wen sie mich erinnert“ höre ich aus der Reihe hinter mir die Stimme der 5,5-Millionen-Frau.
Zwischen Lesung und Filmvorführung gibt es nochmal eine Pause, während der Lily im Foyer Bücher signieren wird. Vor mir hat sich eine lange Schlange gebildet. Die wartenden Fans wirken genauso aufgeregt wie ich. Ein Mann hat einen ganzen Stapel mitgebracht , den er wie den Turm von Pisa vor Lily aufbaut und sie signiert jedes einzelne Buch, warmherzig lächelnd. Zwischendurch wird sie immer wieder von ihren Enkelkindern umarmt. Als ich vor ihr sitze, gebe ich mich von meiner Instagram-Nachricht zu erkennen. Wir lachen, sie schreibt in mein erstes Buch von dreien und wir unterhalten uns über ihre Werke und was sie mir bedeuten. Als sie mich bei dem zweiten Buch fragt, für wen sie dieses signieren darf, sage ich verlegen „Also for me, please“ und das dritte bitte auch für mich. Entschuldigend erkläre ich: „I‘m greedy“. („Ich bin gierig.“)
Sie stutzt, schaut mich direkt mit ihren großen dunklen Augen an und sagt: „You must be greedy! You have to be greedy. Greedy for books, greedy for art and culture in general. That’s absolutely right.“
Wir reden noch über ihr wunderbares Buch „Alt sind nur die anderen“ und sie erzählt mir von ihren Gedanken über das „Alt-Sein“ und wir lachen miteinander und danken uns aufrichtig gegenseitig – das finde ich auch liebenswert, dass sie sich bei ihren Lesern bedankt, wo sie uns doch so beschenkt mit ihrer Kunst – und ich schwebe glücklich nach draußen zu meinen Freundinnen.
Und dann wird „Treasure“ gezeigt. Die Inszenierung von Julia von Heinz ist für mich das zweite große Geschenk des Abends.
Der Plot: 1991, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, begleitet die New Yorker Musikjournalistin Ruth (Lena Dunham) ihren Vater Edek (Stephen Fry), einen polnischen Auschwitz-Überlebenden, auf eine Reise durch sein Heimatland Polen. Ruths Ziel ist es, die familiären Wurzeln zu erkunden – von Warschau über Łódź bis hin zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Edek wiederum möchte die traumatische Vergangenheit hinter sich lassen und sabotiert immer wieder die Reisepläne, was die (anscheinend) unvereinbaren Gegensätze zwischen Vater und Tochter offenlegt.
Ein einfühlsamer, subtiler, großartig inszenierter Film mit Humor und Tiefe und viel Raum für Zwischentöne. Mit zwei eindringlich, einfach fantastisch spielenden Schauspielern und überhaupt einer großartigen Besetzung bis in die „kleinsten“ Rollen.
Ein Film voller Herzenswärme, Tragikomik und Tiefgrund, ohne jemals „didaktisch“ zu sein. Mit Szenen, die ich kaum aushalten kann und die nachwirken. Zum Beispiel als Edek in seinem Elternhaus in Łódź ist, in dem eine fremde Familie wohnt. Die behauptet, die Wohnung sei damals leer gewesen, 1940, als man sie „übernommen“ habe. Und als er das Sofa erkennt und die Silberschale und das Teeservice seiner Mutter. Und Ruth am nächsten Tag ohne ihn in die Wohnung zurückgeht, begleitet von einem Übersetzer, und das Eigentum ihrer Familie für viel Geld zurückkauft. Sowie den Wintermantel seines Vaters, in dem dessen Initialen eingestickt sind.
Der bis dahin so leichte Abend hat einer Schwere Platz gemacht, die in meiner Kehle schmerzt, die ich kaum aushalte. Jenny hat zum Glück Taschentücher dabei. Man spürt die Anspannung und tiefe Traurigkeit und Bestürzung im ganzen Kinosaal. Und dann sind es wieder die trockenhumorigen Wortgefechte und komischen Situationen, die zum Lachen bringen.
Genau darüber diskutieren wir vier, als wir nach diesem intensiven Abend im KLICK Kino auf dem Weg zum Terzo Mondo am Savignyplatz sind. Braucht man bei der filmischen Darstellung von Traumata humorige Momente? Kann der Schrecken des Traumas samt seiner Auswirkung auf die Nachfahren nicht für sich stehen? Braucht man den Witz als „Erleichterung“, weil man den Schmerz sonst nicht aushält? Kann man es nicht einfach bei der Schwere belassen? Eine spannende Diskussion und natürlich ist es Geschmacksache. Ich halte es dabei mit einem Zitat von Lily Brett: „Der Humor hat mich gerettet – auch in meinem täglichen Leben.“
Im Terzo Mondo wartet bereits Lydia mit ihrem männlichen Besuch aus Athen auf uns. Die Schwere, die mich durch die erschütternden Filmszenen befallen hat, kann ich mit dem gaumenschmeichlerischen Wein aus Kreta vertreiben. Es wird eine lustige, berauschende Sommernacht. Ich oute mich irgendwann in der Runde, dass ich durch Instagram zum Tom Cruise-Fan mutiert bin. Allgemeines Entsetzen. Ich zeige allen den Auslöser meiner Begeisterung: Seine lippensynchrone Interpretation von The Weeknd‘s „Can‘t feel my face“. Schaue ich mir regelmäßig an. Also eigentlich täglich. Macht gute Laune, kann ich nur empfehlen – vor allem montags. Ich verteidige Tom heroisch. Und tatsächlich: Selbst die strenge Gaga muss über ihn lachen.
Nach leichtsinnig zu viel kretischem Wein in einer lustigen Nacht fühle ich am nächsten Tag bleiernde Schwere. Und bereue meine Genuss-Gier (und wie greedy!) und Maßlosigkeit – wo ich mich doch in den letzten Wochen so brav im strikten Maßhalten beim Weinkonsum nach monatelangem Komplettverzicht geübt hatte. Aber auch hier sehe ich es letztlich wie Lily Brett: „Ich bin auch ein sehr selbstironischer Mensch und kann über mich lachen.“2

„Der Humor hat mich gerettet“. Immer wieder in meinem langen Leben begegnet mir dieser Satz und erst heute morgen habe ich in meiner Meditation darüber nachgedacht. Ich habe um Kraft gebeten, dass ich für mich selbst wieder zur Freude und zum Humor finden kann. Jetzt lese ich Deine schöne Geschichte über diese wunderbare Dame und mein Gedankenkreis kann sich schließen. Wieder ist mein Seelenplan erfüllt.
Bei meinen jahrzehntelangen Besuchen in Altenheimen stelle ich fest, dass die Menschen mit Humor und Lachen einfach viel jünger aussehen und das ganz ohne Kosten.
Ich sage es ihnen auch.
Liebe Grüße von Deinem Freund Eduard
Man kann Euren sehr tiefsinnigen und beeindruckenden Abend beim Lesen sehr gut nachempfinden. Sicher werde ich zeitnah das Buch „Alt sind nur die anderen“ lesen. Der Titel verspricht, dass ich damit auch meinen Galgenhumor füttern kann, der mich auch vieles ertragen lassen hat und es heute noch tut. Blacky Fuchsbergers Ausspruch: „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, stimmt zwar, aber hört sich so an wie, das Glas ist halbleer. „Man erkennt sein Alter nur an den Gesichtern der ehemaligen Klassenkameraden“, ( habe ich mal unter Humor gelesen und verzeiht mir bitte die Wiedergabe, liebe Götzer Schulmädels, falls Ihr das jetzt lest- ich meine nicht Euch!!!) hört sich doch mehr nach halbvollem Glas an. 😂 Dankeschön, Saski, für die lange aber kurzweilige und interessante Kolumne.
Ja, toll und aufwändig und liebevoll beschrieben. Dieser Doktorarbeit von einem virtuosen Blogeintrag kann ich nur zustimmen, kein Detail wurde vergessen, auch nicht die von hinten blökenden Wachteln :-). Und sehr schöne Erinnerungsfotos von Maria. Siehst Du, das war doch eben richtig und angemessen, darüber zu schreiben, Dir werden die Themen nicht ausgehen. Solche komplexen Einträge haut man auch nicht einfach mal so täglich raus, das ist schon richtig hingebungsvolles Schreiben. Großes Kino.
Mensch, Saskia, das ist so schön, wie du schreibst. Ich war ja am Abend dabei. Und jetzt lese Deinen Text und denke, das ist nach der Lesung, nach dem Film, nach unserem Sommerabend das vierte Geschenk dieses wunderbaren Samstags. Du schaffst mit dieser Beschreibung eine Mischung aus Leichtigkeit und Schmerz, Witz und Spannung, das ist so schön. Wow! Ich habe diesen Abend geliebt. Und nun liebe ich ihn nochmal. Danke dafür!! Bravo! Und diese schönen Fotos! 😀 Hattest Du denn auch einen Fotografen dabei? Mensch, Du warst ja gut vorbereitet 😀