Es riecht wieder nach Schulanfang. Der gleiche Geruch, wie ich ihn seit Jahrzehnten kenne. Schon Mitte August konnte ich ihn wahrnehmen. Eine Mischung aus goldenen Sonnenstrahlen auf abgekühltem Asphalt, frischem Buchpapier, Schulranzen, Tau auf Obstbäumen, kühler Morgenluft und nassen Blättern. Ein Duft nach Umschwung. Die Sonne will es nochmal wissen. Zwischen zwei Schauern. Der September ist Ende wie Anfang. Abschied vom Sommer. Und gleichzeitig Aufbruch. Millionen von Zugvögeln ziehen nach Süden.
Meinen ersten Schulanfang sehe ich wie heute vor mir. Es war ein sonniger September-Samstag und ich saß in einem Marine-Outfit (Matrosenshirt und kurze blaue Hose) und mit großen gelben Schleifen an zwei hohen Zöpfen in der ersten Reihe auf dem Schulhof der Karl-Marx-Schule in Brandenburg an der Havel. Und staunte über meine künftige, burschikose Klassenlehrerin Frau Harnack, die mir mit ihren Anfang 40 uralt erschien. Sie trug eine braune Bügelfaltenhose, einen ockergelben Pullunder und hatte die gleiche Frisur wie David Bowie – den ich damals noch nicht kannte. Sie sächselte leicht und sollte mich bald – zum Entsetzen meiner Eltern – für die Nationale Volksarmee begeistern. Ich erinnere mich daran, dass ihr Mann Feldwebel bei der NVA war und dass meine Eltern zu Hause Witze darüber machten, dass Frau Harnack wohl zu Hause der wahre Feldwebel sei.
Der nächste einschneidende Schulanfang meines Lebens, an den ich jeden September seit Ewigkeiten denke, war kurz nach der deutschen Wiedervereinigung. Ich war in der Pubertät und sauer, dass meine Eltern beschlossen hatten, dass wir in den Westen ziehen. Nach Hessen. Nach Liederbach-Süd, ein Vorort von Frankfurt am Main. Die Schule, auf die ich gehen sollte, war jedoch in der 10 Kilometer entfernten Millionärshochburg Königstein im Taunus. Der Weg dorthin dauerte mit Bahnfahrt und Fußweg 50 Minuten – und das früh morgens. Meine Eltern hatten mir sicherlich mehrfach erklärt, wie ich dorthin komme. Wo der Bahnhof Liederbach-Süd sei, von wo ich mit der sogenannten K-Bahn nach Königstein fahren sollte. Ich hörte aber nicht zu, aus Trotz. Es interessierte mich einfach nicht. Als ich dann am Morgen des ersten Schultags den vermeintlichen Bahnhof „Liederbach-Süd“ erreichte, stand ich nur vor einem verlassenen Bahnübergang und die K-Bahn fuhr an mir vorbei. Heulend rannte ich nach Hause, doch meine Eltern konnten mich nicht zur Schule fahren, da sie selber zur Arbeit mussten. „Das kommt davon, wenn man nicht zuhört!“ Wahrscheinlich hat mich mein Vater noch am richtigen Bahnhof absetzen können – jedenfalls kam ich natürlich zu spät in Königstein an. Von dort musste ich noch 20 Minuten lang einen Berg zur Schule hochlaufen, was ich natürlich konditionsmäßig nicht gewöhnt war. Die erste Schulstunde in der neuen Klasse war ausgerechnet der Sportunterricht. Oben angekommen mit hochrotem Kopf, schweißgebadet und völlig außer Atem fand ich die Turnhalle. Der Klassenlehrer Herr Ochs erklärte gerade die Basketballregeln. Ich näherte mich dem Geschehen. Er verstummte und alle sahen mich an. Unter mir tat sich der Hallenboden auf. Artig setzte ich an: „Guten Morgen. Ick heiße Saskia Rutner. Entschuldigen Sie bitte, dass ick zu spät komme. Ick hab die Bahn verpasst. Es tut mir leid.“ Die Klasse starrte mich an, als ob ich ein Alien sei. Herr Ochs schaute, als ob er noch nie eine solche Entschuldigung gehört hatte. Ein denkwürdiger Schulstart an einem frühen Septembermorgen in einem mir fremden Bundesland, das für mich noch zu einer geliebten zweiten Heimat werden sollte.
Ich mag es, im September auf Wochenmärkte zu gehen. Feldgereifte Tomaten, Birnen, Äpfel und Pflaumen aus dem Brandenburgischen bringen die Stände auf dem Arkonaplatz zum Leuchten. Und nie strahlt die Mittelmeersonne so schön warm und gülden wie im September. In meinem Freundeskreis finden sich viele Septemberkinder. Ich habe anscheinend große Sympathie für die zwischen Sonnenkraft und Herbstschatten Geborenen. Der September hat auch einzigartige Weltstars hervorgebracht: Amy Winehouse, Sophia Loren, Pink, Beyoncé, Freddie Mercury und Keanu Reeves. Und wenn ich sowas wie ein Lieblings-Promipaar habe, dann zählen definitiv Catherine Zeta-Jones und Michael Douglas dazu. Beide Septemberkinder, beide am 25.9. geboren. (Kleine Info für alle, die mal in der Rubrik „Unnützes Wissen“ punkten wollen.)
Ich finde übrigens, der September eignet sich besser für Jahresvorsätze als der Januar.
Der Schulanfangs-Vibe weckt so manche ermüdeten Lebensgeister, das Wetter ist eh besser als zum Jahresanfang und die Zeiträume sind realistischer, um sich noch fürs Jahr Ziele zu setzen. Zum Septemberanfang habe ich das Gefühl, dass ich nochmal das Ruder rumreißen kann in den letzten drei Monaten des Jahres. Anders als Anfang Januar, wo ich gerade erst in See steche und das Jahr wie das weite Wattenmeer vor mir liegt. Anfang September will ich es nochmal wissen – Yeah Yeah Tschakka Tschakka! Ich habe sogar mal im September ein Kind bekommen. Um mit der Dichterin Patience Strong zu schließen: „September! Ich werde nie müde, ihn in meinem Geist hin und her zu wenden. Er hat Wärme, Tiefe und Farbe. Er leuchtet wie alter Bernstein.“ Ich habe mich in den September verliebt.

„Guten Morgen. Ick heiße Saskia Rutner. Entschuldigen Sie bitte, dass ick zu spät komme. Ick hab die Bahn verpasst. Da hab ich das zweite mal laut gelacht. Das erste mal bei „Frau Harnack (…) sollte mich bald – zum Entsetzen meiner Eltern – für die Nationale Volksarmee begeistern. Frage mich, ob sie dabei erotisiert von der Uniform ihres Angetrauten geschwärmt hat 🙂
Ich mag den September auch sehr. Der allerschönste Septembersong von allen ist für mich Try to Remember von Harry Belafonte.
Try to remember the kind of September
When life was slow and oh so mellow
Try to remember the kind of September
When grass was green and grain was yellow
Try to remember the kind of September
When you were young and callow fellow
Try to remember and if you remember
Then follow
Follow
Try to remember when life was so tender
That no one wept except the willow
Try to remember when life was so tender
That dreams were kept beside your pillow
Try to remember when life was so tender
When love was an ember about to billow
Try to remember and if you remember (flow)
Then follow (follow)
Follow
Danke liebes Septemberkind Gaga (hast Du eigentlich dieses Jahr mit den Kaulitz-Zwillingen zusammen gefeiert? 🤩🥳) für diesen wunderschönen Septembersong! Was für ein poetischer, schmerzlich schöner Text… Harry‘s Stimme strahlt so golden wie die Septembersonne…
Ich liebe auch „September in the rain“ in der Version von Dinah Washington – https://youtu.be/CHCqA7Q_VNc – aber der Berliner September hat uns zum Glück noch keinen Regen gebracht. Erst gestern habe ich zu Septemberkind Jenny gesagt, dass das Licht gerade am allerschönsten ist – und perfekt für Fotoshootings (für die eitlen Schauspielerinnen 😂)
„…ob sie dabei erotisiert von der Uniform ihres Angetrauten geschwärmt hat“ 😂😅 Definitiv habe ich das Wort „erotisiert“ noch nie mit meiner Klassenlehrerin in Verbindung gebracht 😅🔥
OMG, wie süss warst du denn? Zum LIEBHABEN!!! (DU weißt? LIEBHABEN!) 😀 Schöne Geschichte. Wir hätten uns ja auch in Frankfurt kennenlernen können, dachte ich beim Lesen. Und in einer Sache stimme ich dir absolut zu: Ich setze meine Ziele auch immer im Herbst. Im Oktober ist es sogar eine ganze Woche Thema bei mir. Wunderbarer Blog. Du schreibst so schön, ich kann das gar nicht oft genug sagen!
Vielen lieben Dank, liebe Montagsmarie! 😍 Mensch, wir sollten uns mal in Frankfurt treffen! Mit dir in der Fressgass schlemmen und anschließend am Mainufer flanieren, das stelle ich mir ganz fein vor 😃 Ich bin sehr gespannt und freue mich auf deine Herbstziele-Woche auf https://montagsfreude.de/ !👏