Lautes Klackern von Trolleys im Hinterhof. Das sich mit dem schrillen Klang der Betonsäge mischt. Über zwei Jahre schon dauern die Bauarbeiten am künftigen Luxusapartment-Haus. Flucht zur anderen Seite der Wohnung.
Bimmeln der Tram, weil mal wieder jemand in der zweiten Reihe parkt. Energischeres Bimmeln der Straßenbahn. Autohupen. Quietschende Bremsen. Jemand klingelt unten an der Tür und ich höre kurz darauf, wie es überall Sturm läutet. Da will wohl jemand schnell ein Paket loswerden.
Genau heute ist der „Tag gegen Lärm“. Der „International Noise Awareness Day“ geht zurück auf eine Initiative des Center for Hearing and Communication (CHC) und findet seit Ende der Neunzigerjahre immer am letzten Mittwoch im April statt. In Deutschland als jährliche Aktion der Deutschen Gesellschaft für Akustik (DEGA e.V.). Warum dieser Tag? Es soll ein öffentliches Bewusstsein für die Problematik der steigenden Lärmbelastung geschaffen werden. Lärm ist laut WHO eine der größten Umweltgefahren für die körperliche und geistige Gesundheit. Nach Luftverschmutzung sogar die zweitgrößte umweltbedingte Ursache für Gesundheitsprobleme. Er versetzt den Körper in Alarmbereitschaft. Anhaltende Lärmbelästigung fördert das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Tinnitus, Stoffwechselstörungen, Stress sowie psychischen Erkrankungen.
Draußen im Weinbergspark übt jemand kläglich Trompete. Disharmonische Töne, staccato-artig oder nervtötend lang herausgepresst. Ich habe Mitleid mit dem Reiher am Teich, der nun wegfliegt.
Beim Thema Lärmbelästigung denken wir häufig zuerst an Verkehrs-, Bau- und Fluglärm.
Sensibilisierung und Achtsamkeit hinsichtlich unseres eigenen Lärmverhaltens im menschlichen Miteinander ist genauso wichtig.
Oben im Rosengarten, der jetzt so schön blüht, streiten sich zwei etwa zwanzigjährige Jungs vor ihren E-Scootern. Ihr Wortgefecht schallt über den ganzen Weinbergspark. Würde es in einem privaten TV-Sender am Vorabend laufen, würde man permanent ein „Beep“ hören. Der eine schreit dem anderen entgegen:
„Bruder ich piss dein Herz! Bruder du f….st mein Herz! Bruder ich hab mir fast den Nacken gebrochen! Bruder weißt du nicht, ich weiß was ich zu tun habe?! Hab ich keine Augen im Kopf?! Bruder hatten wir Spaß oder hatten wir Spaß? Bruder halt die Schnauze Bruder! Du küsst mein Herz ich f..k deinen Kopf! Ich küss dein Herz. Für was?! Weil du meinen Kopf f….st?! Bruder, weißt du warum ich schreie?! Weil du meinen Kopf f….st!“
Ich entschwinde und verlasse den Park. „Aaaaaahhhhhhhh!!!!“ Ein kreischendes Kind wirft sich der Länge nach hin und brüllt die ganze Straße zusammen. Der überforderte Vater ruft: „Du kriegst ja gleich dein Macaron!“ Ich muss grinsen. Diesen Ausruf würde ich wahrscheinlich in Marzahn oder Neukölln weniger hören. Wummernde Bässe und frenetisches Hupen einer Hochzeits-Karawane, die vom Wedding kommend über die Brunnenstraße rollt. Wer jetzt denkt: ‚Selbst schuld. Wie kann man bloß in Mitte leben?‘ Eine Stunde später befinde ich mich auf dem früher mal ruhigen Teil des Ku’damms. Auch hier Polizeisirenen und Krankenwagengeheul. Bumm-Bumm aus tiefer gelegten Karosserien, die Fenster runtergefahren. Presslufthammer und Hydraulikbagger auf der Baustelle. Wer jetzt denkt: ‚Selbst schuld. Wie kann man bloß in Berlin leben?‘ Eine Stunde später befinde ich mich bei meinen Eltern im Umland am idyllischen Beetzsee. Das Zwitschern der Vögelchen wird übertönt von penetranten Rasenmähern, Laubbläsern und Motor-Rasenkantenschneidern in den Nachbargärten. Letztere sind der Antichrist unter den Wohnlärmbelästigungen im Grünen.
Wenn diese Kolumne erscheint, sitze ich im Flieger gen Kreta. Höre die Durchsagen des Bordpersonals, das Brummen der Turbinen, das Klappern des Getränkewagens. Und freue mich auf einen abgelegenen Strand mit pinkfarbenem Sand, „weit weg von überall“, den uns Theodoros, der aus Kreta stammende Erzieher unserer Tochter, empfohlen hat. Stille, das leise Rauschen der Wellen, sanft wogende Zypressen.
Und was ist mit dem Lärm in uns? Dem Gedankenkarussell? „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ behauptete schon der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert. Gedanken können unglaublich laut sein. Und für die gibt es kein Noise Cancelling. Wenn plötzlich außen Ruhe einkehrt, muss man den inneren Lärm erstmal aushalten. Meditations- und Achtsamkeits-Experten empfehlen ja, man solle sich einfach mal fünf Minuten auf die Stille einlassen, die Gedanken aktiv beobachten und wie Wolken vorbeiziehen lassen. Klingt einfach – und anstrengend. Wie oft vermeiden wir genau das im Alltag, in dem wir unsere Gedanken ausblenden und uns ganz bewusst mit äußeren Reizen beschallen?
Kurt Tucholsky meinte: „Es gibt vielerlei Lärme. Aber es gibt nur eine Stille.“ Vielleicht entdecke ich die ja auf Kreta, zwischen Kids Club und Kloster? Das wissen nur die Götter!
Ab sofort erscheint die Mitteschnitte 14-tägig. Wie gehabt zur Wochenmitte. Hier geht es weiter am 14. Mai 🤗🌸 Euch allen einen wunderbaren Tanz in den Wonnemonat! 😃
Ganz viel Spaß auf Kreta, liebste Saskia. Ich weiß jetzt schon, wem es so richtig gut gefallen wird. Und Euch beiden sicher auch! Und bitte: Nicht auf JAMMAS reinfallen! 😀
Mir gings wie Gaga Nielsen: Der Ich-piss-dein-Herz-Bruderdialog hat mich sofort bezaubert. Wobei „Du kriegst ja gleich dein Macaron“ auch einen brauchbaren Groove hat, finde ich.
Hab einen Traumurlaub mit wohldosierten Geräuschen, innen wie außen!
„Bruder hatten wir Spaß oder hatten wir Spaß? Bruder halt die Schnauze Bruder! Du küsst mein Herz ich f..k deinen Kopf! Ich küss dein Herz. Für was?!“
Äh… sorry – aber vielleicht ist es Dir nach der Niederschrift dieser Zeilen ja selbst aufgefallen: ich finde das ist Lyrik und gehört vertont, Deutsch-Pop vom Feinsten. Hat was, mein ich ganz ohne Ironie…!
Die Mitteschnitte-Entschleunigung klingt auch sehr entspannt. Gruß an den Strand! 🙂
Genial! Vertonte Lyrik ist gut! 😀
Du sprichst mir so aus der Seele, Saski. Jaaa, Lärm ist der größte Stressor in unserem Alltag mit all seinen Nachwirkungen. Wir wohnen eigentlich idyllisch, abgelegen von der Stadt, dennoch ist Ruhe, die eine Stille, ganz selten für kurze Zeit. Gestern 16.00 Uhr: Der Nachbar schneidet mit ohrenbetäubendem Fliesenschneider Steine für die Versiegelung seines Grundstückes. Staubschwaden bahnen sich ihren Weg durch die grünen Sträucher und Bäume und legen sich wie ein ein Teppich auf unser Grundstück. Beide Ereignisse- „entzückend“. Auf der anderen Seite muss ich zwangsläufig ein Telefonat mit anhören , dass die Oma kommt, es Nudelsalat gibt, usw.
Manchmal gehe ich dann einfach ins Haus, um unsere Idylle von drinnen aus zu genießen, aber die Erwartungshaltung war ursprünglich eine andere. Ach ja….
Liebe Maman, ich wünsche Euch einen entspannten und genussvollen 1. Mai und dass Ihr Euch an den Vogelgesängen erfreuen könnt – OHNE Fliesenschneider-Lärm in der Nachbarschaft 🙈❤️❤️❤️