Neulich bin ich mal wieder aus meiner Mitte-Blase rausgekommen, als ich zum
ersten Mal ein Seminar in Neukölln gegeben habe. Mittendrin, in einem Institut auf der Karl-Marx-Straße. Am dritten Seminartag – die Teilnehmerinnen waren schon gegangen – saß ich noch ein bisschen im Raum und ordnete meine Unterlagen. Plötzlich hörte ich lautes Geschrei von der Straße her. (Die Tür des Instituts stand meistens offen). Ich erkannte die Stimme von G., der sehr freundlichen und liebenswürdigen Bürodame. Ihr Schreien wurde immer lauter. Ich erschrak – war sie überfallen worden? Ihr Büro war gleich hinter der offenen Eingangstür. Und Neukölln ist nun mal ein Stadtteil mit hoher Kriminalität. Ich musste ihr zur Hilfe eilen. Ich rannte aus dem Seminarraum, den Gang entlang, raus auf die Karl-Marx-Straße. Auf dem Fußgängerweg stand G., wedelte aufgeregt mit den Händen und versuchte, sämtliche Passanten zu verscheuchen. Sie brüllte einen Shisha-Pfeife rauchenden jungen Mann an: „Bruder, geh weg Mann! Hau ab, Bruder!“ Ich sah, dass zu Füßen des Typen eine Taube saß. Immer panischer rief G.: „Geht weg! Geht alle weg! Oh Hilfe, Allah, wir müssen sie retten!“ Dann sah sie mich mit ihren hypnotischen braunen Augen an und sagte eindringlich: „Saskia, du musst mir helfen. Kannst du mit mir auf die Taube aufpassen? Sie ist krank! Sie darf nicht wegfliegen! Mein Kollege ist schon auf dem Weg hierher, ich hab ihn angerufen. Wir müssen sie fangen und zur Rettungsstation bringen, sonst stirbt sie.“
Ich: „Dein Kollege?“
G.: „Ja, Eldar. Er ist in zwölf Minuten hier. Wir sind Taubenretter.“
Ich: „Oh, sowas gibt es?“
G., ihre Stimme verschwörerisch senkend: „Ja. Wir sind viele.“
Ich überlegte schnell – eigentlich wollte ich meine Tochter von der Kita abholen. Aber diese Mission hier war dringlich, es ging um Leben und Tod! Und ich war neugierig, was passieren würde, wenn dieser Eldar endlich käme. G. rief ihn immer wieder an und vermeldete wie ein Liveticker, in wie vielen Minuten er da sein würde.
Sie erzählte mir, dass Eldar aus Georgien und ein großartiger Taubenretter sei und sie ärgerte sich, dass sie nicht ihren Käscher mit zur Arbeit gebracht hatte – so hätte sie das Tier sofort einfangen können. Ich kenne mich mit Tauben überhaupt nicht aus und ehrlich gesagt sind sie mir nicht geheuer. Vor allem in Scharen. Auf mich wirkte das Tier auch nicht todkrank – ja mei, eine Taube mit angelegten Flügeln – aber wenn G. als Spezialistin es sagte… Sie erklärte mir, dass die Taube in ihrem Zustand definitiv sterben würde ohne ärztliche Behandlung. Sie hatte große Angst, dass das Tier wegfliegen würde, aufgescheucht durch irgendwelche Passanten. Und die kamen natürlich. Und G. flehte alle an, sie mögen bitte einen großen Bogen um die Taube machen. Diese bewegte sich plötzlich langsam ein paar Meter weiter, in Richtung der nächsten Seitenstraße, und bog dort um die Kurve. G. folgte ihr panisch, mit mir im Schlepptau. Sie dankte mir immer wieder, dass ich bei ihr bleibe und mit ihr auf Eldar warte.
Beruhigend sprach sie auf die Taube ein, dass gleich Hilfe kommen würde.
Eine Mutter mit pubertierender Tochter näherte sich uns. G. bat sie inständig, einen großen Bogen um uns zu machen, um das Tier nicht zu stören. Die Mutter kuckte entgeistert. Das Mädchen fing beim Anblick des Vogels an zu kreischen, woraufhin G. sie anschnauzte, wie sie es wagen könne, die arme Taube so zu erschrecken. Die Mutter stürmte daraufhin auf G. zu und brüllte sie an: „Alter, wie kannst du es wagen, meine Tochter anzukeifen! Sie ist autistisch, Mann! Sie hat Angst vor Tauben, du blöde Kuh!“ Sie machte noch einen weiteren Sprung auf G. zu und nun waren beide Frauen nur noch eine Nasenlänge voneinander entfernt. Ich dachte, das ist ja wie in einem Western, John Wayne gegen James Coburn – nur dass es hier um zwei Frauen ging, die jeweils für eine Taube und ein Mädchen kämpften. Ich fürchtete, sie würden gleich handgreiflich werden, so wie sie sich anfunkelten. Doch G. sagte mit meditativer Stimme: „Schatz. Ich habe deine Tochter nicht angegriffen. Doch sie erschreckt das Tier mit ihrem Geschrei und wenn es wegfliegt, können wir es nicht mehr retten und es wird qualvoll sterben.“ Die Mutter zog fluchend mit ihrer Tochter von dannen. Ein etwa 90-jähriger Mann kam die zwielichtig wirkende Seitenstraße entlang gekrochen, direkt auf die apathisch dasitzende Taube zu. Plötzlich schrie G. den Opa an: „Neeeiin, bitte nicht hier lang laufen, bitte auf die andere Straßenseite!“ Sie rief ihm noch etwas auf Türkisch zu, aber es war zu spät – der Vogel war tatsächlich aufgescheucht worden und mit schwachen Flügeln richtete er sich auf und schwebte in Zeitlupe zur gegenüberliegenden Häuserwand.
Auf Höhe des ersten Stocks ließ er sich neben einem Fenster nieder. G. stieß einen verzweifelten Schrei aus. Der ging in eine Mischung aus Erleichterung und hoffnungsvoller Freude über, als ein sportlich aussehender, etwa 40-jähriger Mann mit Pferdeschwanz und einem Käscher in der Hand auf uns zu kam – Eldar! Wir grüßten uns und gaben uns respektvoll die Hand – wie zwei Spezialisten, die sich noch nicht kennen und mit der raschen, gemeinsamen Lösung eines Kriminalfalls beauftragt sind. Mir gefielen seine klaren, leuchtenden Augen. Nach unserem Handschlag öffnete er seine Umhängetasche, holte etwas raus und zeigte es G. mit ernsthaftem Blick – eine tote Taube. „Ich habe sie leider nicht mehr retten können. Wir müssen sie bestatten.“ Ich starrte auf das tote Tier in seiner Hand. Die Hand, die soeben meine Hand geschüttelt hatte. Ekel durchflutete meinen Körper. Viren, Bakterien, fiese Erreger – alle an meiner Hand! Während die beiden die tote Taube am Boden ablegten, öffnete ich verstohlen mit meiner linken Hand meine Handtasche, um aus dieser eine Packung Desinfektionstücher zu holen, mit meinen Zähnen zu öffnen und die kontaminierte rechte Hand zu reinigen. Das verseuchte Desinfektionstuch wiederum ließ ich unauffällig in einem Müllberg hinter uns verschwinden.
Jetzt, wo Eldar da war, hätte ich eigentlich gehen können. Aber ich war natürlich neugierig, wie sie die entflohene Taube retten würden und wollte G. auch mental unterstützen. Beide beschlossen, sich Zugang zum ersten Stock zu verschaffen. Es handelte sich um eine Deutsch-Arabische Sprachschule. Sie rannten rüber, erklärten an der Gegensprechanlage ihre Mission, verschwanden im Haus und nach zwei Minuten sah ich sie hinter den Fenstern mit dem Käscher durch die Räumlichkeiten laufen. Die Taube an der Hauswand hatte ich die ganze Zeit im Visier.
Eldar öffnete vorsichtig das Fenster und hob behutsam den Käscher raus, ganz langsam zur Taube empor und zack – wirbel wirbel – war das Tier im Netz und der Käscher verschwand im Raum. Hinter dem wieder geschlossenen Fenster schaute ein Mitarbeiter zu mir runter, wir lachten uns an und hoben jeder den Daumen nach oben. Mission geglückt. Aus dem Haus kamen eine strahlende G., die Taube zärtlich in ihren beiden Händen haltend und den kleinen Schnabel küssend, und ein erleichterter Eldar. Sie steuerten den Straßenbrunnen an, neben dem ich stand, und G. hielt das Tier behutsam vor den Wasserhahn. Beide versicherten mir, dass Eldar die Taube nun in eine tierärztliche Rettungsstelle bringen würde.
Ich fuhr elektrisiert und aufgewühlt zurück nach Mitte. Ein Tauben-Road-Movie in Neukölln. Sowas hätte ich in Mitte nie erlebt. Ich wusste auch nicht, dass Menschen in dieser Stadt wohnen, die mit so viel Herzblut und Engagement kranke Tauben retten.
Wenn dieses Erlebnis eine Filmszene wäre, würde ich zu gerne G. spielen. Was für eine geniale Rolle! Aber selbst objektiv als Casterin würde ich mich nicht dafür besetzen, sondern meine wunderbare Schauspielkollegin Ilknur Boyraz. Oder die tolle Meltem Kaptan. Ich würde mich dann einfach selbst spielen. Ich glaub, das krieg ich auch hin.